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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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Wissenschaft der Physik vor die neue Aufgabe gestellt hatte, die Kräfte der Anziehung und Abstoßung, die einzig und allein vom Abstand zweier Massen oder Pole abhingen, zu erforschen.
    Das Kraftfeld war die Seele der Materie. Die Einheit, die die Energiewelle und das Materiekorpuskel umfasste … die Körnigkeit des Lichts … war sie nun ein Schauer von Lichttropfen oder eine blitzschnelle Welle?
    Die Quantentheorie hatte die Gesetze, die den Leitfaden für individuelle physikalische Phänomene gebildet hatten, durch neue ersetzt – die Gesetze der Wahrscheinlichkeit und die der mathematischen Statistik, die den Begriff der Individualität aufgab und nur den der Gesamtheit gelten ließ. Die Physik des vergangenen Jahrhunderts verband sich für Strum mit der Vorstellung von Männern mit gewichsten Schnurrbärten, die Anzüge mit gestärkten Stehkragen und steifen Manschetten trugen und sich um einen Billardtisch drängten. Tiefsinnige Gelehrte, ausgerüstet mit Linealen und Chronometern, maßen mit zusammengezogenen Brauen Geschwindigkeiten und Beschleunigungen und bestimmten die Massen von elastischen Kugeln, die den Weltraum aus grünem Tuch erfüllten.
    Doch der mit Metallstäben und Linealen ausgemessene Raum und die mit vollkommen genauen Uhren gemessene Zeit fingen plötzlich an, sich zu verziehen, sich zu dehnen und platt gedrückt zu werden. Es zeigte sich, dass die unerschütterliche Bestimmtheit von Zeit und Raum nicht das Fundament der Wissenschaft war, sondern die Gitter und Mauern ihres Gefängnisses. Es kam der Tag des Jüngsten Gerichts; tausendjährige Wahrheiten wurden als Irrtümer entlarvt. In uralten Vorurteilen, Fehlern und Ungenauigkeiten hatte, gleichsam wie in einem Kokon, die Wahrheit geschlummert.
    Die Welt wurde nicht euklidisch; ihre geometrische Natur wurde durch Massen und ihre Geschwindigkeiten geformt.
    Immer stürmischer vollzog sich die wissenschaftliche Bewegung in einer Welt, die von Einstein aus ihren Banden der absoluten Zeit und des absoluten Raumes befreit worden war.
    Zwei in verschiedene Richtungen verlaufende Strömungen, die eine um kosmologische Erkenntnisse bemüht, die andere bestrebt, den Atomkern zu erforschen, verloren doch nicht die Verbindung zueinander, obgleich die eine in Parsec, die andere in Mikrometern maß. Je tiefer die Physiker ins Innere des Atoms vordrangen, umso klarer wurden ihnen die Gesetze, die das Leuchten der Sterne bestimmten. Die Erkenntnis über die Rotverschiebung von Spektrallinien in den Spektren entfernter Galaxien hatte zur Vorstellung von im unendlichen Raum auseinanderstrebenden kosmischen Systemen geführt. Doch ging man lieber von einem endlichen, linsenförmigen, nicht durch Geschwindigkeiten und Massen entstellten Raum aus, so wurde es möglich, sich vorzustellen, dass ein Raum, der Galaxien verschlang, selbst von Expansion ergriffen war.
    Strum zweifelte nicht daran, dass kein Mensch auf der Welt glücklicher als ein Wissenschaftler sein könnte. Manchmal, wenn er morgens auf dem Weg ins Institut oder auf dem Abendspaziergang oder eben in der Nacht über seine Arbeit nachdachte, wurde er von Glück, Demut und Begeisterung ergriffen.
    Die Kräfte, die das Weltall mit dem stillen Glanz der Sterne erfüllten, wurden bei der Umwandlung von Wasserstoff in Helium freigesetzt.
    Zwei Jahre vor dem Krieg hatten zwei junge Deutsche schwere Atomkerne mit Neutronen gespalten, und sowjetische Physiker hatten bei ihren Forschungen – auf anderen Wegen zu übereinstimmenden Ergebnissen gelangend – plötzlich das empfunden, was hunderttausend Jahre zuvor der Höhlenmensch erfuhr, als er sein erstes Feuer entfacht hatte.
    Es lag klar auf der Hand, die maßgebliche Wissenschaft im zwanzigsten Jahrhundert war die Physik – genau wie Stalingrad im Jahr 1942 für alle Fronten des Weltkriegs zum Richtweiser des Angriffs geworden war.
    Doch trotz dieses stolzen Bewusstseins blieben Strum Zweifel, Leid und Ungewissheit hart auf den Fersen.
    18
    »Vitja, ich bin sicher, dass Dich mein Brief erreichen wird, obwohl ich mich hinter der Frontlinie und hinter dem Stacheldraht des jüdischen Ghettos befinde. Deine Antwort werde ich nie erhalten, ich werde nicht mehr leben. Ich möchte, dass Du über meine letzten Tage Bescheid weißt; dieser Gedanke macht es mir leichter, aus dem Leben zu scheiden.
    Es ist schwer, Vitja, die Menschen wirklich zu begreifen … Am siebten Juli sind die Deutschen in die Stadt eingedrungen. Im Stadtpark wurden über Funk die

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