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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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letzten Nachrichten ausgegeben; ich kam gerade aus der Poliklinik, nach der Sprechstunde, und blieb stehen, um zuzuhören; die Sprecherin verlas auf Ukrainisch einen Bericht über die Kampfhandlungen. Ich hörte Schießereien in der Ferne, dann kamen Leute durch den Park gerannt. Ich ging zu einem Haus und wunderte mich sehr, wieso ich den Fliegeralarm nicht gehört hatte. Plötzlich erblickte ich einen Panzer, und irgendwer schrie: ›Die Deutschen sind durchgebrochen!‹
    Ich sagte: ›Verbreitet doch keine Panik!‹ Am Tag zuvor war ich beim Sekretär des Stadtsowjets gewesen und hatte um die Ausreisebewilligung gebeten, da hatte er sich geärgert: ›Darüber zu reden ist noch viel zu früh. Wir haben noch nicht einmal die Listen zusammengestellt!‹ Kurzum, es waren die Deutschen. Die ganze Nacht hindurch gab es ein Hin-und-her-Gerenne bei den Nachbarn, am ruhigsten waren noch die kleinen Kinder und ich. Ich dachte nur, was mit allen geschieht, das wird auch mit mir geschehen. Zuerst war ich erschrocken, als ich begriff, dass ich Dich niemals wiedersehen würde; ich hatte den leidenschaftlichen Wunsch, Dich noch einmal anzuschauen, Deine Stirn und Deine Augen zu küssen, dann aber sagte ich mir: Was für ein Glück ist es doch, dass Du in Sicherheit bist.
    Gegen Morgen schlief ich ein, und als ich erwachte, empfand ich furchtbare Traurigkeit. Ich war in meinem Zimmer, in meinem Bett, und doch fühlte ich mich in der Fremde, verloren, allein.
    An diesem Morgen erinnerte ich mich an das, was ich in den Jahren der sowjetischen Herrschaft vergessen hatte – dass ich Jüdin bin. Die Deutschen fuhren auf Lastwagen ein und schrien: ›Juden kaputt!‹
    Und da erinnerten mich auch einige meiner Nachbarn daran. Die Hausmeisterfrau stand unter meinem Fenster und sagte zur Nachbarin: ›Gott sei Dank, mit den Juden ist’s jetzt vorbei.‹ Woher dies auf einmal? Ihr Sohn ist mit einer Jüdin verheiratet; die Alte hatte ihren Sohn besucht und mir von den Enkelkindern erzählt.
    Meine Nachbarin, Witwe – sie hat ein sechsjähriges kleines Mädchen, Aljonuschka, mit wunderschönen blauen Augen, ich schrieb Dir einmal von ihr –, sie kam zu mir und sagte: ›Ich bitte Sie, Anna Semjonowna, bis zum Abend Ihre Sachen auszuräumen; ich werde in Ihr Zimmer umziehen.‹ – ›Gut, dann ziehe ich in Ihres.‹ – ›Nein, Sie ziehen in das Kämmerchen hinter der Küche.‹ ich lehnte ab; die Kammer hatte weder Fenster noch einen Ofen.
    Ich ging in die Poliklinik, und als ich zurückkam, stellte ich fest: Die Tür zu meinem Zimmer war aufgebrochen, und meine Sachen waren in die Kammer geworfen worden. Die Nachbarin sagte zu mir: ›Ich habe das Sofa bei mir stehenlassen, es passt sowieso nicht in Ihr neues Zimmerchen hinein.‹
    Es ist schon erstaunlich, sie hat das Technikum abgeschlossen, und ihr verstorbener Mann, ein feiner und stiller Mensch, war Buchhalter. ›Sie stehen außerhalb des Gesetzes‹, sagte sie in einem Ton, der darauf schließen ließ, dass ihr das sehr gelegen kam. Ihre Aljonuschka aber saß den ganzen Abend bei mir, und ich erzählte ihr Märchen. Das war meine Einzugsfeier. Sie wollte nicht schlafen gehen; die Mutter musste sie auf den Armen forttragen. Danach, Vitjenka, wurde unsere Poliklinik wieder geöffnet, und ich und noch ein jüdischer Arzt wurden entlassen. Ich bat um das Geld für den letzten Arbeitsmonat, doch der neue Klinikleiter sagte zu mir: ›Soll Sie doch Stalin dafür bezahlen, was Sie unter sowjetischer Herrschaft gearbeitet haben; schreiben Sie ihm nach Moskau.‹ Die Krankenpflegerin Marussja umarmte mich und klagte leise: ›Herr, du mein Gott, was wird nur aus Ihnen, was wird nur aus euch allen?‹ Und Doktor Tkatschew drückte mir die Hand. Ich weiß nicht, was schlimmer ist: die Schadenfreude oder die mitleidigen Blicke, die man einer krepierenden, räudigen Katze schenkt. Ich hatte nicht gedacht, dass ich das alles einmal selbst erleben muss.
    Viele Leute haben mir einen Schlag versetzt, und nicht nur ungebildete Menschen mit schwarzer, verhärteter Seele. Da ist unser alter Lehrer, Rentner, 75 Jahre alt, er hat sich immer nach Dir erkundigt, Grüße ausrichten lassen und über Dich gesagt: ›Er ist unser ganzer Stolz.‹ Aber in diesen verfluchten Tagen grüßte er mich nicht einmal, wenn er mir begegnete, sondern wandte sich ab. Später hat man mir dann erzählt, dass er auf einer Versammlung und in der Kommandantur gesagt habe: ›Die Luft ist rein, es riecht nicht mehr nach

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