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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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ihnen verboten sei, Butter, Eier, Milch, Beerenobst, Weißbrot, Fleisch und alle Gemüsearten, außer Kartoffeln, zu kaufen; Einkäufe auf dem Markt dürften erst nach sechs Uhr abends gemacht werden (wenn die Bauern den Markt verlassen). Die Altstadt werde mit Stacheldraht umzäunt, und das Verlassen des umzäunten Gebiets sei verboten; es sei nur unter Bewachung für die Zwangsarbeit möglich. Wenn ein Jude in einem russischen Haus entdeckt werde, werde der Hauswirt erschossen, als hätte er einen Partisanen versteckt.
    Der Schwiegervater von Schtschukin, ein alter Bauer, der aus dem benachbarten Marktflecken Tschudnow gekommen war, hatte mit eigenen Augen gesehen, dass alle Juden des Ortes mit Bündeln und Koffern in den Wald getrieben wurden. Von dort hatte man den ganzen Tag das Knattern von Schüssen und Schreie gehört, nicht ein Mensch war zurückgekehrt. Die Deutschen aber, die beim Schwiegervater Quartier gemacht hatten, waren spätabends heimgekommen – betrunken – und hatten bis zum Morgen gesoffen, gesungen und im Beisein des Alten Broschen, Ringe und Armbänder unter sich verteilt. Ich weiß nicht, ob dies ein zufälliger Akt der Willkür war oder ein Vorzeichen des Schicksals, das auch uns erwartet.
    Wie traurig, lieber Sohn, war mein Weg in dieses mittelalterliche Ghetto. Ich ging durch die Stadt, in der ich zwanzig Jahre gearbeitet habe. Zuerst gingen wir durch die menschenleere Swetschnajastraße. Doch als wir auf die Nikolskajastraße gelangten, sah ich Hunderte von Menschen, die in dieses verfluchte Ghetto gingen. Die Straße war weiß von Bündeln und Kopfkissen. Die Kranken führte man am Arm. Den gelähmten Vater von Dr. Margulis trugen sie auf einer Decke. Ein junger Mann trug in seinen Armen eine Greisin, hinter ihm gingen Frau und Kinder, mit Bündeln beladen. Der Leiter des Kolonialwarengeschäfts, Gordon, ein Dicker, der an Atemnot leidet, hatte einen Mantel mit Pelzkragen übergezogen, und sein Gesicht triefte vor Schweiß. Ein junger Mann verblüffte mich: Er ging ohne Gepäck mit hocherhobenem Kopf und hielt ein aufgeschlagenes Buch vor sein hochmütiges, ruhiges Gesicht. Doch wie viele um mich herum waren wie von Sinnen, voll des Entsetzens!
    Wir gingen auf der gepflasterten Straße, auf dem Gehsteig aber standen die Leute und schauten uns zu.
    Eine Weile ging ich mit den Margulis zusammen und hörte die mitleidigen Seufzer der Frauen. Über Gordon aber in seinem Wintermantel machten sie sich lustig, obwohl er, glaub mir, schrecklich aussah, nicht komisch. Ich sah viele bekannte Gesichter. Manche nickten mir zum Abschied zu, andere wandten sich ab. Ich glaube, dass es in dieser Menge keine gleichgültigen Augen gegeben hat; da waren neugierige und da waren mitleidslose, und ein paarmal sah ich auch verweinte Augen.
    Ich sah zweierlei Menschenmassen – auf der Straße die Juden in Mantel und Mütze, die Frauen in Winterkleidern, und auf dem Gehsteig die sommerlich gekleidete Menge, helle Blusen, die Männer ohne Jackett, einige in bestickten ukrainischen Hemden. Ich hatte das Gefühl, dass für die die Straße entlanggehenden Juden die Sonne bereits aufgehört hatte zu scheinen, dass sie durch nächtlichen Dezemberfrost schritten.
    Am Eingang des Ghettos verabschiedete ich mich von meinem Begleiter; er zeigte mir die Stelle an der Drahtsperre, wo wir uns treffen würden.
    Weißt Du, Vitjenka, was für eine Erfahrung ich machte, als ich hinter dem Stacheldraht war? Ich hatte gedacht, dass ich Grauen empfinden würde. Doch stell Dir vor, in diesem Pferch wurde mir leichter ums Herz. Denk nicht etwa, ich hätte eine Sklavenseele! Nein. Nein. Um mich herum waren Menschen mit dem gleichen Schicksal, im Ghetto musste ich nicht wie ein Pferd auf der Straße gehen, da gab es keine gehässigen Blicke, und meine Bekannten schauten mir in die Augen und wichen einer Begegnung mit mir nicht aus. In diesem Pferch tragen alle das Mal, das uns von den Faschisten aufgebrannt worden ist, und deshalb brennt dieses Mal nicht so stark in meiner Seele. Hier fühlte ich mich nicht wie ein rechtloses Vieh, sondern wie ein unglücklicher Mensch. Davon wurde mir leichter.
    Ich zog zusammen mit meinem Kollegen, Doktor Sperling, in ein Lehmhäuschen, das aus zwei kleinen Zimmerchen besteht. Sperlings haben zwei erwachsene Töchter und einen Sohn von ungefähr zwölf Jahren. Ich betrachte immer lange sein mageres Gesichtchen und seine großen, traurigen Augen; er heißt Jura. Zweimal nannte ich ihn Vitja, da

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