Leben und Schicksal
wärmenden Ofen.
»Putz dir die Nase«, sagte Ljudmila, »was soll denn daran so wunderbar sein? Ich versteh dich nicht.«
Nadja platzte, den mütterlichen Tonfall nachahmend, heraus: »Nun mach schon, putz dir die Nase, du verstehst doch wohl Russisch!«
»Nadja, Nadja«, warnte Ljudmila Nikolajewna; sie gestand niemandem sonst das Recht zu, ihren Mann zu erziehen.
Viktor Pawlowitsch sagte: »Ja, ja, draußen geht ein sehr kalter Wind.«
Er ging ins Zimmer, und durch die offene Tür konnte man sehen, dass er sich an den Tisch setzte.
»Papa schreibt wieder auf einem Buchumschlag«, sagte Nadja vorlaut.
»Das geht dich nichts an«, sagte Ljudmila Nikolajewna und erklärte ihrer Mutter: »Warum hat er sich wohl so gefreut, dass alle zu Hause sind? Er hat einen Tick. Wenn jemand nicht zu Hause ist, macht er sich Sorgen. Aber heute hat er einen Gedanken noch nicht zu Ende gedacht und freut sich, dass er sich nicht durch unnötiges Besorgtsein ablenken lassen muss.«
»Leise, wir stören ihn ja wirklich«, sagte Alexandra Wladimirowna.
»Im Gegenteil«, meinte Nadja, »sprichst du laut, hört er drüber hinweg, flüsterst du aber, schon steht er da und fragt: Was tuschelt ihr denn da?«
»Nadja, du redest über deinen Vater wie ein Zooführer, der etwas über die Instinkte der Tiere erzählt.«
Sie brachen alle gleichzeitig in Gelächter aus und schauten sich gegenseitig an.
»Mama, wie konntet Ihr mich nur so kränken?«, fragte Ljudmila Nikolajewna.
Die Mutter sah schweigend über sie hinweg.
Danach aßen sie in der Küche zu Abend. Viktor Pawlowitsch schien es, als wäre die Küche an diesem Abend von einer besonders sanften und weichen Wärme erfüllt.
Das, was im Grunde sein Leben ausmachte, ging weiter. In letzter Zeit beschäftigte ihn unablässig der Gedanke, dass es eine überraschende Erklärung für die widersprüchlichen Versuche geben könnte, die im Labor in großem Umfang durchgeführt worden waren.
Während er am Küchentisch saß, verspürte er eine sonderbare, freudige Unruhe – es juckte ihn in den Fingern, nur mit Mühe konnte er den Wunsch unterdrücken, zum Bleistift zu greifen.
»Die Buchweizengrütze schmeckt heute fabelhaft«, sagte er und klopfte mit dem Löffel auf den leeren Teller.
»Soll das heißen, dass du noch mehr möchtest?«, fragte Ljudmila Nikolajewna.
Er schob seiner Frau den Teller hin und fragte: »Ljuda, du erinnerst dich natürlich an die Prout’sche Hypothese?«
Ljudmila Nikolajewna, die gerade den Löffel zum Mund führen wollte, hielt verblüfft inne.
»Das war doch was über die Entstehung der Elemente«, sagte Alexandra Wladimirowna.
»Ach ja, richtig«, meinte Ljudmila, »alle Elemente setzen sich aus Wasserstoff zusammen. Aber was hat das mit Grütze zu tun?«
»Mit Grütze?«, fragte Viktor Pawlowitsch zurück. »Mit Prout hat es folgende Bewandtnis: Er hat vor allem deshalb eine zutreffende Hypothese aufstellen können, weil zu seiner Zeit bei der Bestimmung der Atomgewichte grobe Fehler bestanden haben. Hätte man zu seiner Zeit die Atomgewichte mit der Genauigkeit bestimmen können, wie sie von Dumas und Stas erreicht worden ist, dann hätte er sich nicht zu der Annahme entschlossen, dass die Atomgewichte der Elemente durch das Atomgewicht des Wasserstoffs teilbar sind. Es hat sich herausgestellt, dass er recht hat, weil er sich geirrt hat.«
»Aber trotzdem, was hat das alles mit Grütze zu tun?«, fragte Nadja.
»Mit Grütze?«, fragte Strum verwundert zurück und besann sich: »Mit Grütze hat das gar nichts zu tun … Diese Grütze aufzuschlüsseln wäre schwierig; man bräuchte hundert Jahre, bis man das geschafft hätte.«
»War das das Thema deiner heutigen Vorlesung?«, fragte Alexandra Wladimirowna.
»Nein, dummes Zeug. Ich halte doch gar keine Vorlesungen, weder vor dem Dorf noch vor der Stadt.«
Er fing den Blick seiner Frau auf und spürte, dass sie ihn verstand: Die Arbeit wühlte ihn auf und hatte wieder völlig von ihm Besitz ergriffen.
»Wie geht’s dir?«, fragte Strum. »Hat dich Marja Iwanowna besucht? Hat sie dir vielleicht aus ›Madame Bovary‹ von Balzac vorgelesen?«
»Hör doch auf«, sagte Ljudmila Nikolajewna.
In der Nacht wartete sie darauf, dass ihr Mann mit ihr über seine Arbeit sprechen würde. Doch er schwieg, und sie stellte ihm weiter keine Fragen.
17
Wie naiv dünkten Strum die Ideen der Physiker, die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts gelebt hatten, die Ansichten von Helmholtz, der die
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