Leben und Schicksal
Knoblauch.‹ Warum tut er das – mit diesen Worten besudelt er sich doch nur selbst. Auf der gleichen Versammlung hat es derartig viele Verleumdungen von Juden gegeben … Aber natürlich, Vitjenka, sind nicht alle zu dieser Versammlung gegangen. Viele haben sich geweigert. Weißt Du, in meinem Bewusstsein verbindet sich der Antisemitismus schon seit der Zeit des Zarenreichs mit dem Hurrapatriotismus der Leute vomErzengel-Michael-Bund 10 . Und jetzt habe ich festgestellt, dass die Menschen, die nach der Befreiung Russlands von den Juden schreien, auch diejenigen sind, die sich auf lakaienhaft erbärmliche Weise vor den Deutschen erniedrigen, bereit, Russland für dreißig deutsche Silberlinge zu verraten. Und lichtscheues Gesindel aus der Vorstadt plündert, reißt Wohnungen, Bettzeug und Kleider an sich: Solche Leute ermordeten wahrscheinlich zur Zeit der Choleraaufstände die Ärzte. Es gibt seelisch labile Menschen, die sich jedem Schwachsinn unterwerfen, nur um ja nicht in den Verdacht zu geraten, gegen die Staatsmacht zu sein.
Pausenlos kommen Bekannte mit Neuigkeiten zu mir gelaufen, alle haben irre Augen, die Menschen sind wie im Wahn. Ein merkwürdiger Ausdruck ist aufgekommen: ›Sachen umverstecken‹. Man glaubt wohl, sie seien beim Nachbarn sicherer. Das Umverstecken der Sachen kommt mir wie ein Spiel vor.
Bald darauf wurde die Umsiedlung der Juden verkündet. Es wurde gestattet, fünfzehn Kilo persönliche Habe mitzunehmen. An den Hauswänden hingen gelbliche Anschläge: ›Alle Juden werden aufgefordert, bis spätestens 15. Juli 1941, 18.00 Uhr, in den Altstadtbezirk umzuziehen.‹ Diejenigen, die nicht umgezogen sind, werden erschossen.
So habe ich mich denn auch aufgemacht, Vitjenka. Ich nahm ein Kopfkissen, etwas Wäsche, die kleine Tasse, die Du mir einmal geschenkt hast, einen Löffel, ein Messer und zwei Teller mit. Braucht der Mensch denn viel? Ich packte noch einige medizinische Instrumente ein, Deine Briefe, die Fotografien von meiner verstorbenen Mutter und Onkel David und die, wo Du mit Papa zusammen schläfst, ein Bändchen Puschkin, die ›Lettres de mon moulin‹, ein Bändchen Maupassant, das die Erzählung ›Une vie‹ enthält, ein kleines Wörterbuch und den Tschechow-Band, in dem ›Eine langweilige Geschichte‹ und ›Der Bischof‹ stehen – und damit war mein Korb voll. Wie viele Briefe habe ich Dir schon unter diesem Dach geschrieben, wie viele Stunden nachts durchweint, jetzt will ich Dir noch von meiner Einsamkeit berichten.
Ich nahm Abschied vom Haus, von dem Gärtchen, saß ein paar Minuten unter dem Baum, nahm Abschied von den Nachbarn. Manche Menschen sind merkwürdig beschaffen. Zwei Nachbarinnen fingen in meinem Beisein an, darüber zu streiten, wer sich die Stühle und wer den kleinen Schreibtisch nehmen würde, aber als ich mich von ihnen verabschiedete, weinten beide. Ich habe meine Nachbarn, die Bassankos, gebeten, dass sie Dir, solltest Du nach dem Krieg einmal herkommen und etwas über mich erfahren wollen, die Einzelheiten meines Schicksals erzählen. Sie haben es mir versprochen. Das Hündchen, der Straßenköter Tobik, rührte mich – am letzten Abend strich er irgendwie besonders liebevoll um mich herum.
Wenn Du kommst, gib ihm zu fressen, weil er zu der alten Jüdin nett gewesen ist.
Als ich mich auf den Weg machte und mich fragte, wie ich den Korb bis zur Altstadt schleppen sollte, kam plötzlich mein Patient Schtschukin, ein mürrischer und, wie mir schien, hartherziger Mann. Er erbot sich, mir meine Sachen zu tragen, gab mir dreihundert Rubel und sagte, dass er mir einmal in der Woche Brot an den Zaun bringen würde. Er arbeitet in einer Druckerei, an die Front wurde er wegen seines Augenleidens nicht eingezogen. Vor dem Krieg hatte er sich von mir behandeln lassen; wenn ich aufgefordert worden wäre, Menschen mit teilnahmsvollem, reinem Herzen aufzuzählen – ich hätte Dutzende von Namen genannt, nur nicht seinen. Weißt Du, Vitjenka, nachdem er gekommen war, fühlte ich mich wieder als Mensch, denn das bedeutete, dass mich nicht nur ein Straßenköter menschlich behandeln konnte.
Er erzählte mir, in der städtischen Druckerei werde der Befehl gedruckt, dass es den Juden verboten sei, auf dem Gehsteig zu gehen, dass sie auf der Brust einen gelben Flicken in Form eines sechszackigen Sterns tragen müssten, dass sie nicht das Recht hätten, öffentliche Verkehrsmittel und Bäder zu benutzen, Ambulatorien aufzusuchen, ins Kino zu gehen, dass es
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