Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
Vom Netzwerk:
Kompliment.«
    Noch im Flur berichtete sie ihm kurz von Krymows Verhaftung und dem Zweck ihrer Reise.
    Er war verblüfft. Aber nach dieser Nachricht freute er sich über Genias Besuch noch mehr. Hätte sie als glückliche Frau vor ihm gestanden, erfüllt von dem Gedanken an ihr neues Leben, sie wäre ihm wohl nicht so lieb und nahe gewesen wie jetzt.
    Er sprach mit ihr, fragte sie aus und blickte jeden Augenblick auf die Uhr.
    »Wie absurd das alles ist, wie sinnlos, denken Sie bloß an meine Gespräche mit Nikolai, er hat mir immer den Kopf zurechtgerückt. Und jetzt! Ich Ketzer spaziere frei herum, und er, der rechtgläubige Kommunist, ist eingesperrt.«
    Ljudmila sagte: »Vitja, denk dran, die Uhr im Esszimmer geht zehn Minuten nach.«
    Er brummte etwas und ging in sein Zimmer, auf dem Weg durch den Flur schaute er noch zweimal auf die Uhr.
    Die Sitzung des Wissenschaftsrats war auf 11 Uhr angesetzt. Inmitten der gewohnten Dinge und Bücher fühlte Strum mit einer gesteigerten, an Wahnvorstellungen grenzenden Klarheit die Spannung und den Trubel, die jetzt im Institut herrschen mochten. Halb elf. Sokolow begann, den Arbeitsmantel auszuziehen. Sawostjanow sagte halblaut zu Markow: »Ja, offensichtlich hat unser Irrer beschlossen, nicht zu kommen.« Gurewitsch kratzte sich am dicken Hintern und sah zum Fenster hinaus: Eine SIS-Limousine fuhr vor, Schischakow in Hut und langem Pastorenmantel stieg aus. Wieder ein Auto: der junge Badjin. Über den Gang eilte Kowtschenko. Im Sitzungssaal saß bereits ein Grüppchen von etwa fünfzehn Leuten, sie blätterten in Zeitungen. Sie waren früher gekommen, da es voll werden würde, und hatten sich einen guten Platz gesichert. Vor der Tür des Parteikomitees standen Swetschin und Ramskow, der Parteisekretär des Instituts, auf beider Stirnen das »Siegel der Verschwiegenheit«. Der alte Prassolow, das graugelockte Akademiemitglied, schritt mit Blick an die Decke durch den Gang – bei derlei Sitzungen führte er immer besonders niederträchtige Reden. In lärmenden Rudeln drängten die Assistenten nach.
    Strum schaute auf die Uhr, holte aus der Schublade seine Erklärung, steckte sie in die Tasche, schaute wieder auf die Uhr.
    Er könnte ja hingehen und die Selbstkritik sein lassen, schweigend seine Anwesenheit bekunden. Nein … Wenn er hinginge, würden sie ihn nicht schweigen lassen, und wenn er sprechen würde, müsste er bereuen. Aber nicht hingehen hieße, sich alle Wege abschneiden.
    Es würde heißen, er habe »nicht den Mut gefunden … sich demonstrativ dem Kollektiv entgegengestellt … eine politische Herausforderung … danach sollte man im Gespräch mit ihm einen anderen Ton anschlagen …« Er holte die Erklärung aus der Tasche und steckte sie sofort, ohne hineinzublicken, wieder zurück. Ein Dutzend Mal hatte er diese Zeilen gelesen: »Ich habe erkannt, dass ich mich in meinem Misstrauen gegenüber der Parteiführung einer Handlung schuldig gemacht habe, die mit den Verhaltensnormen eines Sowjetmenschen unvereinbar ist, und darum … In meiner Arbeit bin ich, ohne dass es mir bewusst geworden wäre, von den Grundlinien der sowjetischen Wissenschaft abgewichen und habe mich unwillkürlich dem Kollektiv entgegengestellt …«
    Er spürte den Drang, die Erklärung immer wieder von Neuem zu lesen, kaum hielt er sie jedoch in der Hand, war ihm jeder Buchstabe bis zum Überdruss bekannt … Der Kommunist Krymow saß im Knast auf der Lubjanka. Und Strum mit seinen Zweifeln, mit seinem Entsetzen über die Grausamkeit Stalins, mit seinen Gesprächen über Freiheit und Bürokratie, mit seiner jetzigen politisch gefärbten Affäre, der gehörte längst in ein Lager an der Kolyma …
    In den letzten Tagen überkam ihn immer öfter Angst, er glaubte, die Schergen warteten schon, um ihn zu verhaften. Mit der fristlosen Kündigung war es gewöhnlich nicht getan. Zuerst wurde einer gründlich abgekanzelt, dann entlassen, dann verhaftet.
    Er schaute wieder auf die Uhr. Der Saal war bereits voll. Die Sitzenden lugten nach der Tür, tuschelten: »Strum ist nicht erschienen.« Jemand sagte: »Bald ist Mittag, und Viktor ist immer noch nicht da.« Schischakow hatte den Platz des Vorsitzenden eingenommen und sein Brillenfutteral auf den Tisch gelegt. Neben Kowtschenko stand die Sekretärin, sie hatte ihm dringende Papiere zur Unterschrift gebracht.
    Das ungeduldige, gereizte Warten von mehreren Dutzend Menschen, die sich im Sitzungssaal versammelt hatten, übte auf Strum einen

Weitere Kostenlose Bücher