Leben und Schicksal
unerträglichen Druck aus. Wahrscheinlich wartete man auch in der Lubjanka auf ihn, in dem Zimmer, wo der Mann saß, der sich speziell für ihn interessierte: Kommt er wirklich nicht? Er fühlte, sah den grimmigen Mann im Zentralkomitee: Also hat er doch nicht zu erscheinen geruht? Er sah die Bekannten, wie sie zu ihren Frauen sagten: »Ein Verrückter.« Ljudmila verurteilte ihn innerlich, denn Tolja hatte sein Leben für den Staat gelassen, mit dem sich Viktor während des Krieges angelegt hatte.
Wenn er früher daran dachte, wie viele Verhaftete und Verschickte es in seiner und Ljudmilas Verwandtschaft gab, pflegte er sich mit dem Gedanken an Krymow zu trösten: »Wenn sie mich dort einmal fragen, kann ich immer sagen: Nicht nur solche Verwandte habe ich, nein, auch den Krymow, den bekannten Kommunisten, das alte Parteimitglied noch aus dem Untergrund.«
Da hatte er nun seinen Krymow! Wenn sie ihn dort ausquetschten, würden ihm Strums ketzerische Reden wieder einfallen. Im Übrigen war Krymow kein richtiger Verwandter mehr, Genia hatte sich ja scheiden lassen. Und so brenzlig waren die Gespräche mit ihm auch wieder nicht gewesen, vor dem Krieg hatte Strum ja noch keine besonderen Zweifel gehegt. Aber Madjarow, o ja, wenn man den dort verhörte …
Anstrengungen, Druck, Stöße und Schläge von oben, die er dutzend-, ja, hundertmal erfahren hatte, verschmolzen zu einer Resultante, die ihm die Rippen krümmen und die Schädelknochen auseinandersprengen wollte.
Unsinnig waren Doktor Stockmanns Worte: »Stark ist der Einsame …« Stark, von wegen! Er blickte sich verstohlen um, band sich mit dem jämmerlichen Gehabe eines Ghettojuden hastig die Krawatte um, stopfte seine Unterlagen in die Taschen des neuen Jacketts für besondere Anlässe und zog die neuen gelben Halbschuhe an.
In diesem Augenblick, da er bereits angezogen am Tisch stand, sah Ljudmila ins Zimmer herein. Sie trat schweigend zu ihm, küsste ihn und verließ den Raum.
Nein, er würde sein abgeschmacktes Reuebekenntnis nicht verlesen. Er würde die Wahrheit sagen, die aus seinem Herzen käme: Genossen, Freunde, würde er sagen, mit Schmerzen habe ich euch zugehört, mit Schmerzen habe ich darüber nachgedacht, wie es passieren konnte, dass ich in den glücklichen Tagen der unter Qualen errungenen Kriegswende bei Stalingrad allein dastehe und mir die zornigen Vorwürfe meiner Kollegen, Brüder und Freunde anhören muss … Ich schwöre euch, dass ich mein Gehirn, mein Herzblut, meine Kräfte … Ja, ja, nun wusste er, was er sagen würde … Schnell, schnell, er käme noch rechtzeitig … Genossen … Genosse Stalin … Ich habe geirrt … Ich musste bis zum Rand des Abgrunds gehen, um meine Fehler in ihrer ganzen Tiefe zu erkennen. Was er sagen würde, käme aus tiefstem Herzensgrund! Genossen, mein Sohn ist bei Stalingrad gefallen …
Er ging zur Tür.
In dieser allerletzten Minute hatte sich alles entschieden, jetzt musste er nur noch rasch ins Institut fahren, den Mantel in der Garderobe abgeben, den Saal betreten, das aufgeregte Raunen der Versammelten vernehmen, die ihm bekannten Gesichter mustern und dann sagen: »Ich bitte um das Wort, ich möchte euch sagen, Genossen, was ich in diesen Tagen gedacht und gefühlt habe …«
Doch in ebendieser Minute zog er mit langsamen Bewegungen den Rock aus, hängte ihn über die Stuhllehne, löste die Krawatte, rollte sie zusammen, legte sie auf den Tisch, begann die Schuhe aufzuschnüren.
Ein Gefühl von Leichtigkeit und Reinheit überkam ihn. Er saß in ruhiger Versonnenheit da. Er glaubte nicht an Gott, aber es war ihm in diesen Minuten, als sähe ihn Gott an. Noch nie im Leben hatte er sich derart glücklich und zugleich demütig gefühlt. Es gab keine Kraft mehr, die ihm die Gewissheit hätte nehmen können, im Recht zu sein.
Er dachte an seine Mutter. Vielleicht war sie bei ihm gewesen, als er unbewusst seinen Entschluss geändert hatte. Noch einen Augenblick zuvor hatte er ja in aller Aufrichtigkeit sein hysterisches Reuebekenntnis vortragen wollen. Er hatte nicht an Gott, nicht an seine Mutter gedacht, als ihm zwingend die letzte Entscheidung kam. Doch sie waren bei ihm, obwohl er nicht an sie dachte.
»Wie ist mir wohl, wie bin ich glücklich«, dachte er.
Wieder stellte er sich die Versammlung vor, die Gesichter der Menschen, die Stimmen der Redner.
»Wie ist mir wohl, wie hell ist alles«, dachte er erneut.
Noch nie waren seine Gedanken über das Leben, über die Seinen, über sich
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