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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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zu können.
    »Sieh da, eine Zitrone«, sagte Strum.
    »Bist auch ein teurer Gast«, sagte Natalja Iwanowna.
    »Eine Null hoch zwei«, sagte Strum.
    »Aber, aber, wozu das«, sagte Tschepyschin.
    »Ich habe wirklich das Gefühl, dass sie mich morgen fertigmachen. Ich fühle es. Wohin soll ich dann übermorgen?«
    Strum zog ein Teeglas zu sich heran und sagte zerstreut, während er mit dem Löffel den Marsch seiner Verzweiflung auf der Untertasse klirren ließ: »Sieh da, eine Zitrone.« Er geriet in Verlegenheit, weil er zweimal im gleichen Tonfall dasselbe gesagt hatte.
    Eine Weile schwiegen sie. Dann hob Tschepyschin an: »Ich möchte mit Ihnen einige meiner Gedanken erörtern.«
    »Immer zu Diensten«, sagte Strum zerstreut.
    »Na einfach so, Träumereien … Wissen Sie, die Vorstellung von der Unendlichkeit des Alls ist heutzutage zum Gemeinplatz geworden. Die Metagalaxis wird sich eines Tages als ein Stück Zucker entpuppen, das irgendein knausriger Liliputaner zum Tee anknabbert, statt es ins Teeglas zu geben, während die Elektronen oder Neutronen zu Welten werden, in denen Gullivers zu Hause sind. Das weiß bereits jeder Schuljunge.«
    Strum nickte und dachte: »Wirklich, rosarote Träumereien, der Alte ist heute nicht in Form.« Sogleich stellte er sich Schischakow bei der morgigen Versammlung vor. »Nein, nein, ich gehe nicht hin. Hinzugehen hieße bereuen oder einen politischen Streit anfangen, und das wäre Selbstmord …«
    Er gähnte unbemerkt und dachte: »Das ist die Herzschwäche, man gähnt wegen des Herzens.«
    Tschepyschin sagte: »Die Grenzen der Unendlichkeit kann offensichtlich nur Gott ziehen … Denn hinter der kosmischen Grenzlinie muss man unweigerlich eine göttliche Macht anerkennen. Ist es nicht so?«
    »Ja, ja«, sagte Strum und dachte: »Dmitri Petrowitsch, mir ist nicht nach Philosophieren zumute, ich sitze vielleicht bald hinter Gittern. Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Da habe ich mich in Kasan freimütig mit diesem Burschen unterhalten, mit diesem Madjarow. Der war entweder einfach ein Spitzel, oder er wird selbst eingesperrt und ausgequetscht. Wohin ich auch schaue, nichts Gutes um mich herum.«
    Er sah auf Tschepyschin, und Tschepyschin fing seinen scheinbar aufmerksamen Blick auf und fuhr in seiner Rede fort: »Ich glaube, dass es eine Grenze gibt, die die Unendlichkeit des Alls beschränkt, nämlich das Leben. Diese Grenze liegt nicht in Einsteins Krümmung, sie liegt in der Gegensätzlichkeit von Leben und lebloser Materie. Ich glaube, man könnte das Leben als Freiheit definieren. Das Leben ist Freiheit. Das Grundprinzip des Lebens ist Freiheit. Da liegt die Grenze – zwischen Freiheit und Sklaverei, zwischen toter Materie und Leben.
    Dann überlegte ich: Die einmal entstandene Freiheit machte sich auf ihren Weg – die Evolution. Der Weg war zweigleisig. Der Mensch ist reicher an Freiheit als die einfachsten Organismen. Die gesamte Evolution der lebendigen Welt ist eine Bewegung von einem geringeren Grad an Freiheit zu einem höheren. Das macht die Evolution lebendiger Formen aus. Die höhere Form ist jene, die reicher an Freiheit ist. Dies ist der erste Evolutionszweig.«
    Strum sah Tschepyschin nachdenklich an, der nickte, als begrüße er die Aufmerksamkeit seines Zuhörers.
    »Aber es gibt ja, so dachte ich weiter, einen zweiten, quantitativen Evolutionszweig. Heute wiegt die Menschheit, nimmt man als Durchschnittsgewicht eines Menschen 50 Kilogramm an, 100 Millionen Tonnen. Viel mehr als, sagen wir, vor tausend Jahren. Die Masse des lebendigen Stoffes wird sich ständig vergrößern – auf Kosten des leblosen. Die Erdkugel wird allmählich lebendiger. Der Mensch wird, wenn er die Arktis und die Wüsten besiedelt hat, unter die Erde gehen und die Horizonte der unterirdischen Städte und Felder in die Tiefe hinein erweitern. Ein Übergewicht der lebendigen Erdmasse wird entstehen. Danach werden die Planeten zum Leben erwachen. Wenn man sich die Evolution des Lebens in der Unendlichkeit der Zeit vorstellt, so wird sich die Verwandlung von lebloser Materie in Leben in galaktischen Maßstäben vollziehen. Die Materie, heute tot, wird lebendig, wird zur Freiheit werden. Die Schöpfung wird zum Leben erweckt, alles auf der Welt wird lebendig und somit frei werden. Freiheit, Leben wird die Sklaverei besiegen.«
    »Ja, ja«, sagte Strum und lächelte. »Es ginge bis zum Integral.«
    »Sehen Sie mal«, fuhr Tschepyschin fort. »Ich habe mich mit der Evolution der

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