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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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Glücksgefühl. Ich freue mich für Sie, Sie haben Ihrem Gewissen gehorcht.«
    »Viktor, hör auf wie Buddha zu predigen und der dummen Gans Flausen in den Kopf zu setzen«, sagte Ljudmila Nikolajewna. »Was hat das mit Gewissen zu tun? Sie richtet sich zugrunde und quält einen guten Menschen, und Krymow – was hat der davon? Ich glaube nicht, dass er glücklich wird, wenn er rauskommt. Er war ganz in Ordnung, als sie sich trennten, ihr Gewissen ihm gegenüber ist rein.«
    Jewgenia Nikolajewna nahm den König vom Brett, drehte ihn zwischen den Fingern, betrachtete das daruntergeklebte Stückchen Flanell und stellte ihn wieder zurück.
    »Ach, Ljuda, wer redet da von Glück. Nicht ans Glück denke ich.«
    Strum sah auf die Uhr. Das Zifferblatt erschien ihm ruhig, die Zeiger wirkten schläfrig, friedfertig.
    »Jetzt läuft die Debatte auf Hochtouren. Jetzt ziehen sie über mich her, aber in mir ist kein Groll, kein Zorn.«
    »Ich könnte sie alle ohrfeigen, das falsche Gesindel«, sagte Ljudmila. »Zuerst nennen sie dich eine Leuchte der Wissenschaft, und dann spucken sie dir ins Gesicht. Wann gehst du denn auf den Kusnezki Most, Genia?«
    »Gegen vier.«
    »Ich mach dir das Mittagessen, dann kannst du losgehen.«
    »Was gibt es denn heute?«, fragte Strum und fügte grinsend hinzu: »Wisst ihr, meine Damen, worum ich euch bitten möchte?«
    »Ich weiß, ich weiß. Du willst arbeiten.« Ljudmila Nikolajewna erhob sich.
    »Ein anderer würde an so einem Tag die Wände hochgehen«, sagte Genia.
    »Das ist meine Schwäche, nicht meine Stärke«, sagte Strum. »Gestern hat zum Beispiel Tschepyschin mit mir viel über die Wissenschaft geredet. Doch ich habe eine andere Sicht als er, einen anderen Standpunkt. Mir geht es wie Tolstoi, der an der Frage verzweifelte, ob die Menschen die Literatur bräuchten, ob sie die Bücher bräuchten, die er schrieb.«
    »Na, weißt du«, sagte Ljudmila, »schreib du erst einmal ein ›Krieg und Frieden‹ in der Physik.«
    Strum wurde furchtbar verlegen.
    »Ja, ja, Ljudmila, du hast recht, ich habe zu hoch gegriffen«, murmelte er und sah seine Frau, ohne es zu wollen, vorwurfsvoll an. »Mein Gott, kannst du’s nicht einmal jetzt lassen, mir jedes falsche Wort anzukreiden?«
    Wieder war er allein. Er las die am Vorabend gemachten Notizen wieder und dachte zugleich an den heutigen Tag. Warum war er erleichtert, als Ljudmila und Genia aus dem Zimmer gegangen waren? In ihrer Gegenwart hatte ihn ein Gefühl der eigenen Verlogenheit beschlichen. Sein Vorschlag, Schach zu spielen, sein Wunsch, sich zur Arbeit zurückzuziehen, waren geheuchelt gewesen. Ljudmila musste es wohl gespürt haben, als sie ihn einen Buddha nannte. Und als er seine Lobrede auf das Gewissen gehalten hatte, hatte er selbst gemerkt, wie falsch und hölzern seine Stimme klang. Aus Furcht, der Selbstbeweihräucherung verdächtigt zu werden, hatte er sich bemüht, über Alltägliches zu sprechen, doch lag in dieser betonten Alltäglichkeit genauso wie in der Kanzelpredigt eine Art von Heuchelei.
    Etwas beunruhigte ihn, er kam nicht drauf: Was fehlte ihm noch?
    Einige Male sprang er auf, ging zur Tür, horchte auf die Stimmen der beiden Frauen.
    Er wollte nicht wissen, was man in der Versammlung sprach, wer besonders gehässig redete und welche Resolution sie austüftelten. Er wird Schischakow einen kurzen Brief schreiben: Er sei krank und könne in den nächsten Tagen nicht ins Institut kommen. Und in Zukunft werde dies ohnehin nicht nötig sein. Er stehe stets zu Diensten, nach Maßgabe seiner Kräfte. Das war im Grunde alles.
    Warum hatte er sich in der letzten Zeit so sehr vor der Verhaftung gefürchtet? Er hatte doch nichts Schlimmes getan. Die Zunge nicht im Zaum gehalten. Na ja, aber so lose Worte hatte er auch wieder nicht gesagt. Dort würde man das schon wissen.
    Doch die Unruhe wich nicht, ungeduldig sah er nach der Tür. Vielleicht hatte er Hunger? Mit den Sonderzuwendungen war es jetzt wohl vorbei. Mit der berühmten Kantine auch.
    In der Diele ertönte ein kurzes Läuten. Er stürzte aus dem Zimmer, rief in die Küche: »Ich mach schon auf, Ljudmila.«
    Er riss die Tür auf, draußen stand Marja Iwanowna, ihre Augen blickten ihn im Dämmerlicht der Diele voll Angst und Sorge an.
    »Ach, so ist das«, sagte sie leise, »ich wusste, dass Sie nicht hingehen würden.«
    Während Strum ihr aus dem Mantel half und mit seinen Fingern die Wärme ihres Halses und Nackens fühlte, die auf den Mantelkragen übergegangen

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