Leben und Schicksal
Schützengräben in die Nähe der Deutschen vorgetrieben worden waren, hörte man leise, bedächtige Schläge von Metall auf den gefrorenen Boden.
Ohne aus der Erde hervorzukommen, schoben die Russen langsam, aber stetig einen Schützengraben in Richtung der Deutschen vor. Und in dieser Bewegung durch die steinhart gefrorene Erde lag eine verbissene, gewaltige Leidenschaft. Es war, als schiebe sich der Graben von selbst vor.
Am Tag hatte ein Unteroffizier Bach berichtet, dass aus dem russischen Schützengraben eine Granate geworfen worden sei – sie habe den Schornstein des Kompanieofens zerstört und sehr viel Dreck sei in den deutschen Schützengraben gerieselt.
Gegen Abend zeigte sich dann im Schützengraben auf der anderen Seite ein Russe in weißem Pelzmantel und neuer, warmer Mütze, fluchte und drohte mit den Fäusten.
Die Deutschen schossen nicht – instinktiv ahnten sie, dass die Sache von den Soldaten selbst organisiert worden war.
Der Russe schrie: »He, kurka, jaiki, russ bul-bul?«
Darauf kroch ein graublauer Deutscher aus dem Schützengraben und rief nicht sehr laut, damit man es im Unterstand der Offiziere nicht hören konnte: »He, Russe, schieß nicht in den Kopf. Will noch die Mutter sehen. Nimm die Maschinenpistole, gib mir dafür die Mütze!«
Aus dem russischen Schützengraben antwortete man mit einem sehr kurzen Wort, und obwohl es russisch war, verstanden es die Deutschen und ärgerten sich.
Eine Granate flog, erreichte die Gegenseite und detonierte im Verbindungsgang. Aber das interessierte schon niemanden mehr.
Auch das wurde Bach von Unteroffizier Eisenaug gemeldet, und Bach sagte: »Sollen sie doch schreien. Jedenfalls ist keiner übergelaufen.«
Aber dann berichtete der Unteroffizier Eisenaug, der nach rohen Steckrüben roch, dass der Soldat Pettenkofer auf irgendeine Weise mit dem Feind einen Warenaustausch organisiert habe – in seinem Gepäck fanden sich Würfelzucker und russisches Komissbrot. Er hatte sogar von einem Kameraden ein Rasiermesser in Kommission genommen und dafür ein Stück Speck und zwei Suppenwürfel versprochen, für sich selbst wollte er hundertfünfzig Gramm Speck als Vermittlungsgebühr behalten.
»Das geht doch ganz einfach. Holen Sie ihn mir mal her«, sagte Bach.
Aber wie sich herausstellte, war Pettenkofer in der ersten Tageshälfte bei der Ausführung eines Befehls den Heldentod gestorben.
»Also, was wollen Sie von mir?«, sagte Bach. »Und überhaupt, zwischen dem deutschen und dem russischen Volk wurde schon immer Handel getrieben.«
Eisenaug war aber keinesfalls zu Scherzen aufgelegt. Er war zwei Monate zuvor aus Süddeutschland nach Stalingrad geflogen worden; zu Hause diente er in einer Polizeieinheit. Er litt an einer nicht verheilten Wunde, die er sich im Mai 1940 in Frankreich zugezogen hatte. Stets hungrig, durchgefroren, von Läusen und Angst zerfressen, fehlte ihm jeder Sinn für Humor.
Dort, wo in der Finsternis das verschwommene weiße Spitzengewebe der Stadtgebäude schimmerte, hatte Bachs Stalingrader Leben begonnen. Der schwarze Septemberhimmel mit den riesigen Sternen, das trübe Wolgawasser, die nach den Bränden glühenden Mauern und weiter entfernt die Steppen des russischen Südostens, die Grenze der asiatischen Wüste.
Die Häuser der westlichen Stadtvororte versanken in der Dunkelheit, verschneite Ruinen ragten auf – sein Leben …
Warum hatte er nur diesen Brief aus dem Lazarett an seine Mutter geschrieben? Wahrscheinlich hatte sie ihn Hubert gezeigt! Und wozu alle diese Gespräche mit Lehnard?
Wozu haben die Menschen ein Gedächtnis – manchmal möchte man sterben, sich nicht mehr erinnern. Er hatte kurz vor der Einkesselung den trunkenen Wahnsinn für die Wahrheit des Lebens gehalten und etwas getan, was er in den langen, schweren Jahren nicht getan hatte. War das nötig gewesen?
Er hatte keine Frauen und Kinder ermordet, niemanden verhaftet … Aber er hatte den zerbrechlichen Damm zertrümmert, der die Reinheit seiner Seele von der ringsum herrschenden Finsternis trennte. Und das Blut aus den Lagern und Ghettos hatte ihn überspült, mitgerissen und weitergetragen. Nun gab es keine Grenze mehr zwischen ihm und der Finsternis, er war zu einem Teil dieser Finsternis geworden.
Was war das alles – Sinnlosigkeit, Zufall oder eine Gesetzmäßigkeit seiner Seele?
36
Im Unterstand der Kompanie war es warm. Die einen saßen, die anderen lagen, die Beine zur niedrigen Decke ausgestreckt; einige schliefen, hatten
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