Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
Vom Netzwerk:
Während Stalin mit dem Finger auf den Tisch klopfte, fragte er den Chef des Generalstabs, ob alle Voraussetzungen geschaffen worden seien, um die Einheiten aus der Etappe von Stalingrad, in der sie sich befanden, in die neuen Bereitstellungsräume zu bringen. Als Metropole des Krieges, die noch voll von kampferprobten Generälen und Meistern des Straßenkampfes war, von Waffen, aktuellen operativen Karten und funktionierenden Verbindungsgräben, existierte Stalingrad nicht mehr – es hatte seine neue Existenz begonnen, wie sie Athen und Rom heute führen. Die Historiker, die Museumsführer, die Lehrer und die sich stets langweilenden Schüler gaben bereits unsichtbar den Ton in der Stadt an.
    Eine neue Stadt war geboren worden – eine Stadt der Arbeit und des Alltagslebens, mit Fabriken, Schulen, Entbindungskliniken, mit Miliz, einem Opernhaus und einem Gefängnis.
    Pulverschnee hatte die Wege bepudert, über die Patronen und Brotlaibe in die Feuerstellungen gebracht, Maschinengewehre und Thermoskübel mit Grützebrei geschleppt worden waren, jene gewundenen, listigen kleinen Pfade, über die sich seinerzeit die Scharfschützen, die Artilleriebeobachter und Lauschposten in ihre versteckten Steinhütten geschlichen hatten.
    Schnee hatte die Wege bepudert, über die die Melder von der Kompanie zum Bataillon gerannt waren, die Wege von Batjuk zur Banny-Schlucht, zum Fleischkombinat und zu den Wassertanks …
    Schnee hatte die Wege bepudert, über die die Einwohner der großen Stadt gegangen waren, um sich Tabak auszuborgen, zweihundert Milliliter Wodka zum Namenstag eines Freundes zu trinken, sich im unterirdischen Badehaus zu waschen, Domino zu spielen, bei einem Nachbarn Sauerkohl zu probieren; die Wege, über die man zu seiner Bekannten Manja und zu der Freundin Vera gegangen war, die Wege zu den Uhrmachern, den Herstellern von Feuerzeugen, den Schneidern, den Harmonikaspielern und den Totengräbern.
    Die Menschenmassen bahnten neue Wege, sie gingen, ohne sich an den Ruinen entlangzudrücken – gingen geradewegs.
    Das Netz der kleinen Pfade und Wege des Krieges war vom ersten Schnee bedeckt, und auf den Millionen von Kilometern dieser verschneiten Pfade war keine einzige frische Spur entstanden.
    Auf den ersten Schnee legte sich bald eine zweite Schicht, die Pfade darunter verloren ihre Konturen, wurden unsichtbar …
    Die alteingesessenen Bewohner der Metropole empfanden ein unbeschreibliches Gefühl des Glücks und der Leere. Eine eigenartige Schwermut erfasste die Menschen, die Stalingrad verteidigt hatten.
    Die Stadt war leer geworden, und der Oberbefehlshaber der Armee, die Kommandeure der Schützendivisionen, der alte Landwehrmann Poljakow und der MP-Schütze Gluschkow – alle spürten diese Leere. Dieses Gefühl war sinnlos, schließlich kann doch keine Schwermut aufkommen, weil die Schlacht mit dem Sieg geendet hat und der Tod nicht mehr herrscht.
    Doch so war es. Das Telefon im gelben Lederfutteral auf dem Tisch des Oberbefehlshabers schwieg; auf dem Schutzgehäuse des Maschinengewehrs wuchs ein Kragen aus Schnee; die Scherenfernrohre und Schießscharten erblindeten; die abgeschabten, zusammengeklebten Pläne und Karten wurden aus den Kartentaschen in die Wäschebeutel gepackt und aus manchen Beuteln in die Koffer und Rucksäcke der Zugführer, Kompanie- und Bataillonschefs … Und zwischen den toten Häusern hindurch schoben sich die Massen, die Menschen umarmten sich, stießen Hurraschreie aus …
    Die Menschen musterten einander. »Was seid ihr doch alles für Prachtkerle, zum Fürchten, aber auch einfach, mutig, wir laufen genauso herum wie ihr – Wattejacken, Pelzmützen, ihr seht aus wie wir, wir wie ihr. Wir haben etwas geleistet, bei dem man Angst bekommt, wenn man auch nur daran denkt. Wir haben die allerschwerste Last auf Erden hochgewuchtet, wir haben die Wahrheit über die Unwahrheit hochgehoben, soll einer kommen und es uns nachmachen … Es ist wie im Märchen, aber es ist kein Märchen.«
    Es waren alles Landsleute: Die einen kamen aus der Kuporosnaja-Schlucht, die anderen aus der Banny-Schlucht, die Dritten verließen ihre Zufluchtsstätten unter den Wassertanks, andere kamen aus dem Hüttenwerk »Roter Oktober«, wieder andere vom Mamajew-Hügel, zu ihnen stießen die Bewohner der Stadtmitte, die am Fluss Zariza gewohnt hatten, im Gebiet der Schiffsanleger, am Fuß der Abhänge bei den Öltanks … Sie waren Hausherren und Gäste zugleich, sie gratulierten sich selbst, und der kalte

Weitere Kostenlose Bücher