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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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Bursche des Oberbefehlshabers, Ritter, hockte am Boden und sortierte Wäsche, die auf Zeitungen ringsum ausgebreitet lag.
    In der Nacht hatten Adams und Ritter in dem Büro des Generalfeldmarschalls Papiere verbrannt, auch die große Karte, das persönliche Eigentum des Oberbefehlshabers, die für Adams eine heilige Kriegsreliquie war.
    Paulus hatte die ganze Nacht nicht geschlafen. Am Morgen lehnte er den Kaffee ab und verfolgte teilnahmslos die Bemühungen Adams’. Von Zeit zu Zeit stand er auf und ging im Zimmer umher, stieg über die Papierstapel auf dem Boden, die verbrannt werden sollten. Die auf Leinwand aufgezogenen Karten wollten nicht richtig brennen, sie verstopften den Rost, und Ritter musste den Ofen mit dem Schürhaken reinigen.
    Jedes Mal, wenn Ritter die Tür des kleinen Ofens einen Spalt weit öffnete, streckte der Feldmarschall die Hände dem Feuer entgegen. Adams hängte dem Feldmarschall den Mantel um, aber Paulus zuckte ungeduldig mit der Schulter, und Adams nahm ihm den Mantel wieder ab.
    Vielleicht sah sich der Feldmarschall jetzt in sibirischer Gefangenschaft, wie er mit den Soldaten vor einem Feuer steht und sich die Hände wärmt, hinter ihm Wüste und vor ihm Wüste.
    Adams sagte zum Feldmarschall: »Ich habe Ritter Anweisung gegeben, in Ihren Koffer mehr warme Wäsche zu packen. Wir haben uns als Kinder das Jüngste Gericht ganz falsch vorgestellt: mit Feuer und glühenden Kohlen hat das nichts zu tun.«
    In der Nacht war General Schmidt zweimal hereingekommen. Die Telefone an den gekappten Kabeln schwiegen.
    Vom Augenblick der Einkesselung an hatte Paulus klar erkannt, dass die von ihm befehligten Einheiten den Kampf an der Wolga nicht würden fortsetzen können.
    Er hatte gesehen, dass alle Voraussetzungen, die seinen Erfolg im Sommer bedingt hatten – taktische, psychologische, meteorologische, technische –, fehlten; die Pluszeichen hatten sich in Minuszeichen verwandelt. Er hatte sich an Hitler gewandt: Die 6. Armee müsse unter Absprache mit Manstein den Ring des Kessels nach Südwesten durchbrechen, einen Korridor bilden, ihre Divisionen hinausschaffen und sich damit abfinden, dass ein großer Teil der schweren Waffen zurückbleiben müsste.
    Als Jeremenko am 24. Dezember Manstein mit Erfolg in der Nähe des Flüsschens Myschkowa angegriffen hatte, war jedem Kommandeur eines Infanteriebataillons klargeworden, dass Widerstand in Stalingrad nicht möglich war. Nur einem Mann war das nicht klar. Er hatte die 6. Armee in einen Vorposten der Front umgewandelt, die sich vom Weißen Meer bis zum Terek zog. Er hatte die 6. Armee zur »Festung Stalingrad« erklärt. Im Stab der 6. Armee dagegen hieß es, Stalingrad habe sich in ein Lager bewaffneter Kriegsgefangener verwandelt. Paulus hatte erneut in einem chiffrierten Funkspruch gemeldet, für einen Ausbruch bestünden gewisse Aussichten. Er erwartete einen schrecklichen Zornesausbruch, denn niemand hatte es bis jetzt gewagt, dem Obersten Befehlshaber zweimal zu widersprechen. Man hatte ihm erzählt, Hitler habe dem Generalfeldmarschall von Rundstedt das Ritterkreuz von der Brust gerissen, Brauchitsch, der dabei gewesen war, habe einen Herzanfall erlitten. Mit dem Führer war nicht zu scherzen.
    Am 31. Januar erhielt Paulus schließlich die Antwort auf seinen Funkspruch – ihm war der Rang eines Generalfeldmarschalls verliehen worden. Er machte noch einen Versuch, die Richtigkeit seiner Lageeinschätzung zu beweisen, und erhielt den höchsten Orden des Reichs – das Ritterkreuz mit Eichenlaub.
    Allmählich hatte er begriffen, dass Hitler ihn wie einen Toten behandelte; es war eine postume Ernennung zum Generalfeldmarschall, die Verleihung des Eichenlaubs zum Ritterkreuz erfolgte postum. Er wurde jetzt nur für eines gebraucht – er sollte als Befehlshaber das tragische Bild der heldenhaften Verteidigung schaffen. Die Hunderttausende von Menschen, die seinem Kommando unterstanden, erklärte die staatliche Propaganda zu Heiligen und Märtyrern. Sie lebten noch, sie kochten Pferdefleisch, sie machten Jagd auf die letzten Hunde von Stalingrad, sie fingen Elstern in der Steppe, sie knackten Läuse, sie rauchten Zigaretten, bei denen Papier in Papier gewickelt war, und währenddessen sendeten die staatlichen Rundfunkstationen zu Ehren der in die Erde eingegrabenen Helden feierliche Trauermusik.
    Sie lebten noch, sie hauchten ihre roten Finger warm, Tropfen hingen an ihren Nasen, und in ihren Köpfen blitzten Gedanken auf, wie sie fressen,

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