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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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stehlen, sich krank stellen, sich ergeben, sich in einem Keller mit einer russischen Frau wärmen könnten, während staatliche Knaben- und Mädchenchöre in den Äther schmetterten: »Sie starben, damit Deutschland lebe.« Auferstehen zu einem sündigen und wundervollen Leben konnten sie nur unter der Bedingung, dass der Staat unterging.
    Alles vollzog sich so, wie Paulus es vorhergesagt hatte.
    Er lebte mit dem drückenden Gefühl, recht gehabt zu haben – der vollständige Untergang seiner ganzen Armee bestätigte es. In diesem Untergang fand er gegen seinen Willen eine seltsam quälende Befriedigung, die Grundlage für eine hohe Selbsteinschätzung.
    Gedanken, die er in den Tagen des größten Erfolges unterdrückt hatte, kamen ihm wieder in den Sinn.
    Keitel und Jodl hatten Hitler einen göttlichen Führer genannt. Goebbels hatte verkündet, Hitlers Tragödie bestehe darin, dass er im Krieg auf kein gleichwertiges strategisches Genie treffen könne. Zeitzier hatte erzählt, Hitler habe gebeten, die Frontlinie zu begradigen, da sie sein ästhetisches Gefühl beleidige. Und seine unsinnige, neurasthenische Weigerung, Moskau anzugreifen? Und die plötzliche Willenlosigkeit und der Befehl, den Angriff auf Leningrad einzustellen? Seine fanatische Strategie der starren Verteidigung gründete sich auf die Angst, sein Prestige zu verlieren.
    Jetzt war endgültig alles klar.
    Aber die endgültige Klarheit war auch furchtbar. Er durfte dem Befehl nicht folgen! Natürlich würde ihn der Führer hinrichten lassen. Aber er würde seine Leute retten. Er sah den Vorwurf in vielen Augen.
    Er konnte die Armee retten, er konnte es!
    Er fürchtete sich vor Hitler, hatte Angst um seine Haut!
    Halb, der höchste Vertreter des Reichssicherheitshauptamtes beim Stab der Armee, hatte ihm unlängst vor dem Abflug nach Berlin in Andeutungen zu verstehen gegeben, der Führer sei selbst für ein Volk wie das deutsche zu groß. Ja, ja, natürlich.
    Alles Deklamationen, alles Demagogie.
    Adams schaltete das Rundfunkgerät ein. Durch das Knistern der Entladungen drang getragene Musik – Deutschland feierte seine Toten von Stalingrad. In der Musik verbarg sich eine besondere Stärke … Vielleicht bedeutete der vom Führer geschaffene Mythos für das Volk, für künftige Schlachten mehr als die Rettung erfrorener, verlauster, halb verhungerter Männer. Vielleicht verstand man die Logik des Führers nicht, wenn man Vorschriften las, militärische Anordnungen aufsetzte und operative Karten studierte.
    Vielleicht aber bedeutete die Aureole des Märtyrertums, zu dem Hitler die 6. Armee verurteilt hatte, für Paulus und seine Soldaten eine Wiedergeburt, ihre neue Teilhabe am künftigen Deutschland.
    Hier halfen nicht Bleistift, Rechenschieber und Rechenmaschine. Hier agierte ein eigenartiger Generalquartiermeister, der eine andere Rechnung führte und über andere Reserven verfügte.
    Adams, lieber, treuer Adams, ein hochgeistiger Mensch wird schließlich immer von Zweifeln geplagt. Über die Welt herrschen nur beschränkte Menschen, die unerschütterlich sind in ihrem Gefühl, recht zu haben. Menschen höchsten geistigen Schlags herrschen nicht über Staaten, treffen keine großen Entscheidungen.
    »Sie kommen!«, schrie Adams. Er befahl Ritter: »Aufräumen!« Und dieser zerrte den offenen Koffer zur Seite, zog sich die Uniform gerade.
    In den Socken des Feldmarschalls, die Ritter hastig in den Koffer gepackt hatte, waren an den Hacken Löcher. Ritter litt Qualen, regte sich auf – nicht, weil der unvernünftige, hilflose Paulus zerrissene Socken anziehen würde, sondern weil böse russische Augen diese Löcher in den Socken sehen würden.
    Adams stand da, die Hände auf die Lehne eines Stuhls gelegt, er hatte sich abgewandt von der Tür, die sich gleich öffnen würde, und sah Paulus ruhig, besorgt und liebevoll an; so musste sich seiner Meinung nach der Adjutant eines Generalfeldmarschalls benehmen.
    Paulus war ein wenig vom Tisch abgerückt und hatte die Lippen zusammengekniffen. Auch in diesen Minuten verlangte der Führer von ihm ein Spiel, und er bereitete sich darauf vor.
    Gleich würde die Tür aufgehen, und das Zimmer im Dunkel unter der Erde würden Menschen erblicken, die über der Erde lebten. Schmerz und Kummer waren verflogen, geblieben war die Angst, dass nicht Vertreter des sowjetischen Oberkommandos die Tür öffnen würden, die sich ebenfalls darauf vorbereitet hatten, eine feierliche Szene zu spielen, sondern ungestüme

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