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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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sowjetische Soldaten, gewohnt, den Abzugshebel der Maschinenpistole durchzuziehen. Ihn quälte auch die Sorge vor dem Unbekannten – die Szene würde zu Ende gespielt werden und das Leben beginnen – aber was für eines, wo? In Sibirien, in einem Gefängnis in Moskau, in einer Lagerbaracke?
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    Nachts sahen die Menschen auf der anderen Seite der Wolga, wie der Himmel über Stalingrad von bunten Lichtern erleuchtet wurde. Die deutsche Armee hatte kapituliert.
    Noch in derselben Nacht gingen die Menschen über die Wolga nach Stalingrad. Das Gerücht verbreitete sich, die in Stalingrad verbliebene Bevölkerung habe in letzter Zeit grausam unter Hunger gelitten, und die Soldaten, Offiziere und Matrosen der Wolga-Kriegsflottille hatten Brot und Konserven in Bündel eingepackt. Manche hatten Wodka und Ziehharmonikas mitgenommen.
    Aber es war eigenartig: Diese Soldaten, die in der Nacht als Erste, ohne Waffen, nach Stalingrad kamen, die den Verteidigern der Stadt Brot gaben, sie umarmten und küssten – sie waren offenbar traurig, sie jubelten und sangen nicht.
    Der Morgen des 2. Februar 1943 war neblig. Über den Eislöchern der Wolga dampfte es. Die Sonne ging auf über der Kamelsteppe, die in den glutheißen Augusttagen ebenso rau ist wie in der Zeit, wenn der Winterwind niedrig über die Erde bläst. Trockener Schnee fegte über die flache Weite, wirbelte ihn zu Säulen und Rädern wie aus Milch auf, verlor plötzlich seinen Übermut und sackte kraftlos herab. Die Füße des Ostwinds hinterließen Spuren: Schneekragen rings um die knisternden Halme der Stachelgewächse, festgefrorenes Gekräusel auf den Abhängen der Steppenschluchten, kahle lehmige Stellen und wie Stirnen gerundete Buckel …
    Vom Stalingrader Steilufer aus schien es, als träten die Menschen, die über die Wolga kamen, aus dem Steppennebel, als habe sie der Frost und der Wind geformt.
    Sie hatten in Stalingrad nichts zu tun, ihre Vorgesetzten hatten sie nicht hierhergeschickt, der Krieg war hier zu Ende. Sie kamen von selbst – Rotarmisten, Eisenbahner, Bäcker, Stabsoffiziere, Fahrer, Artilleristen, Schneider aus den Frontwerkstätten, Elektriker und Mechaniker aus den Reparatureinheiten. In ihrem Gefolge kamen in Tücher gehüllte alte Männer, Frauen in wattierten Armeehosen, Jungen und Mädchen mit Rodelschlitten, beladen mit Bündeln und Kissen, über die Wolga und kletterten den Abhang herauf.
    In der Stadt spielte sich ein seltsamer Vorgang ab. Man hörte das Hupen von Autos, die Motoren von Traktoren dröhnten, johlende Menschen mit Ziehharmonikas gingen herum, Tänzer trampelten den Schnee mit Filzstiefeln fest, Rotarmisten schrien und lachten. Aber die Stadt wurde davon nicht lebendig, sie wirkte tot.
    Einige Monate zuvor hatte Stalingrad das gewohnte Leben eingestellt – in der Stadt war alles erstorben: die Schulen, die Fabrikhallen, die Damenmodenateliers, die Amateur-Theatergruppen, die städtische Miliz, die Kinderkrippen, die Kinos … In der Feuersbrunst, die die Stadtviertel erfasst hatte, war eine neue Stadt entstanden, das Stalingrad des Krieges – mit seinen eingeebneten Straßen und Plätzen, seiner unterirdischen Architektur, seinen Straßenverkehrsregeln, seinem Handelsnetz, dem Lärm seiner Werkhallen, seinen Heimarbeitern, seinen Friedhöfen, Trinkgelagen und Konzerten.
    Jede Epoche hat ihre Metropole – sie ist ihre Seele, ihr freier Wille.
    Der Zweite Weltkrieg war eine Menschheitsepoche, und für einige Zeit war Stalingrad ihre Metropole. Um diese Stadt kreisten die Gedanken und Leidenschaften des Menschengeschlechts. Für Stalingrad arbeiteten die Werke und Fabriken, die Rotationsmaschinen und Linotype-Setzmaschinen, Parlamentsführer sprachen in ihren Reden von Stalingrad. Aber als tausendköpfige Mengen aus der Steppe nach Stalingrad kamen, als sich die leeren Straßen mit Menschen füllten und die ersten Automotoren dröhnten, war es mit der Metropole des Kriegs vorbei.
    Die Zeitungen meldeten an diesem Tag die Einzelheiten der deutschen Kapitulation, und die Menschen in Europa, Amerika und Indien erfuhren, wie Generalfeldmarschall Paulus aus dem Keller gekommen war, wie die deutschen Generäle im Stab der 64. Armee von General Schumilow zum ersten Mal verhört wurden und wie General Schmidt, der Stabschef von Paulus, angezogen war.
    In dieser Stunde existierte die Metropole des Weltkriegs bereits nicht mehr. Die Augen Hitlers, Roosevelts und Churchills suchten neue Zentren für die Kriegsanstrengungen.

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