Leben und Schicksal
Wind dröhnte wie altes Blech. Ab und zu schossen sie mit Maschinenpistolen in die Luft, manchmal knallte eine Handgranate. Sie klopften einander beim Kennenlernen auf den Rücken, manchmal umarmten sie sich, küssten sich mit kalten Lippen, dann fluchten sie verlegen und fröhlich … Sie strömten aus der Erde hervor, die Schlosser, Dreher, Pflüger, Zimmerleute, Erdarbeiter, sie hatten den Feind zurückgeschlagen, Stein, Eisen und Lehm umgepflügt.
Eine Metropole unterscheidet sich von anderen Städten nicht nur dadurch, dass ihre Menschen die Verbindung der Stadt zu den Fabriken und Feldern der ganzen Welt spüren. Eine Metropole unterscheidet sich von anderen Städten dadurch, dass sie eine Seele hat. Das Stalingrad des Krieges hatte eine Seele gehabt. Seine Seele war die Freiheit gewesen.
Die Hauptstadt des Krieges gegen den Faschismus verwandelte sich in die abgestorbenen, kalten Ruinen einer mittleren sowjetischen Industrie- und Hafenstadt aus der Zeit vor dem Krieg.
Zehn Jahre später würden hier Tausende von deutschen Kriegsgefangenen einen gewaltigen Damm errichtet und ein staatliches Wasserkraftwerk gebaut haben, eines der größten der Welt.
47
Zu dem Zwischenfall kam es, weil der deutsche Unteroffizier, der in seinem Unterstand aufgewacht war, von der Kapitulation nichts gewusst hatte. Sein Schuss verwundete den Sergeanten Sadnepruk. Das machte die herumstehenden Russen wütend, die beobachtet hatten, wie die deutschen Soldaten aus den massiven Bunkern herauskamen und ihre Maschinenpistolen und Gewehre auf einen immer größer werdenden Haufen warfen.
Die Gefangenen bemühten sich beim Gehen, immer geradeaus zu schauen, und zeigten so, dass auch ihre Augen in Gefangenschaft waren. Nur der Landser Schmidt mit den schwarzweißen Stoppeln lächelte, als er das Tageslicht erblickte, und sah sich die russischen Soldaten an, als sei er überzeugt, auf ein bekanntes Gesicht zu treffen.
Der leicht angetrunkene Oberst Filimonow, der sich am Vortag aus Moskau zum Stab der Stalingrader Front durchgeschlagen hatte, stand mit seinem Dolmetscher am Kapitulationsort der Division von General Weller.
Sein Uniformmantel mit den neuen goldenen Schulterklappen, den roten Litzen und schwarzen Borten hob sich deutlich von den schmutzigen, mit Brandlöchern bedeckten Wattejacken und zerknitterten Mützen der Stalingrader Kompanie- und Bataillonskommandeure und von der ebenso zerdrückten, schmutzigen und angesengten Kleidung der Deutschen ab.
Gestern hatte er in der Kantine des Kriegsrats erzählt, dass es im Moskauer Hauptintendanturdepot gewundenen Golddraht gebe, den man früher für die Schulterklappen der alten russischen Armee verwendet habe, und dass es bei seinen Kameraden als Erfolg gelte, Schulterklappen aus diesem guten alten Material zu ergattern.
Als der Schuss fiel und der leicht verwundete Sadnepruk aufschrie, fragte der Oberst laut: »Wer hat geschossen? Was ist los?«
Mehrere Stimmen antworteten ihm: »Irgendein blöder Deutscher. Man hat ihn schon abgeführt … Scheint nichts gewusst zu haben.«
»Wieso nichts gewusst?«, schrie der Oberst. »Hat wohl immer noch nicht genug von unserem Blut getrunken, der Lump?« Er wandte sich an den hochgewachsenen Politruk, einen Juden, der dolmetschte. »Machen Sie den Offizier ausfindig. Er wird mir diesen Schuss mit dem Kopf bezahlen.«
In diesem Augenblick bemerkte der Oberst das große, lächelnde Gesicht des Soldaten Schmidt und brüllte: »Du lachst, freust dich, dass ihr noch einen zum Krüppel gemacht habt?«
Schmidt verstand nicht, warum sein Lächeln, mit dem er so viel Gutes ausdrücken wollte, dieses Gebrüll des russischen Offiziers ausgelöst hatte. Und als scheinbar ohne jeden Zusammenhang mit diesem Gebrüll ein Revolverschuss knallte, begriff er schon gar nichts mehr, stolperte und fiel vor die Füße der hinter ihm marschierenden Soldaten. Seine Leiche wurde an den Wegrand geschleppt; er lag auf der Seite, und alle, die ihn gekannt und nicht gekannt hatten, schritten vorbei. Dann, als die Gefangenenkolonne fort war, schlichen sich kleine Jungen – ohne Furcht vor dem Toten – in die Bunker und Unterstände und sprangen auf den Holzpritschen herum.
Oberst Filimonow schaute sich inzwischen das verlassene Quartier des deutschen Kompaniekommandeurs an und war begeistert darüber, wie bequem und stabil alles eingerichtet war. Ein Soldat brachte einen jungen deutschen Offizier mit ruhigen, hellen Augen zu ihm. Der Dolmetscher meldete:
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