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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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Schnee lagen schwarzblaue Haufen von Waffen, wie Strohmieten aus Stahl.
    Eine Salutsalve ertönte – ein Rotarmist wurde ins Grab gesenkt, gleich daneben lagen kreuz und quer die toten Deutschen, die man aus dem Lazarettkeller geholt hatte. In weißen und schwarzen Bojaren-Mützen schritten die rumänischen Soldaten dahin, sie fuchtelten albernd mit den Armen und verlachten die lebenden und toten Deutschen.
    Die Gefangenen wurden aus Pitomnik, aus Zariza, aus dem Haus der Spezialisten zusammengetrieben. Sie hatten jene besondere Gangart, die Menschen und Tiere immer dann annehmen, wenn sie die Freiheit verloren haben. Leichtverwundete und Soldaten mit Erfrierungen stützten sich auf Stöcke und angekokelte Bretterrudimente. Sie zogen immer weiter. Es war, als hätten alle das gleiche blaugraue Gesicht, die gleichen Augen, den gleichen Ausdruck von Leid und Schwermut.
    Man konnte nur staunen! So viele von ihnen waren klein, hatten große Nasen und niedrige Stirnen, komische Hasenmäulchen und Spatzenköpfe, so viele Arier waren schwarzhaarig, pickelig und sommersprossig.
    Da gingen unansehnliche, schwache Männer, von deutschen Müttern geboren und geliebt. Es war, als wären die anderen verschwunden, die Vertreter der Nation, die einst mit kantigem Kinn, hochmütigem Mund, weißblondem Haar, hellem Gesicht und steinharter Brust vorwärts marschiert waren.
    Wie wundersam und brüderlich glich diese Masse unansehnlicher, von deutschen Müttern geborener Männer jenen Massen trauriger, vergrämter, von russischen Müttern geborener Männer, die von den Deutschen im Herbst 1941 mit Stöcken und Ruten in die Lager, in den Westen, getrieben worden waren. Hin und wieder knallte aus den Bunkern oder Kellern ein Pistolenschuss, und die unablässig zur gefrorenen Wolga strömende Menge kannte die Bedeutung dieser Schüsse.
    Oberstleutnant Michailow musterte den neben ihm sitzenden Generalfeldmarschall. Der Fahrer blickte in den Rückspiegel. Michailow sah Paulus’ lange, hagere Wange, der Fahrer sah seine Stirn, seine Augen, die schweigend zusammengekniffenen Lippen.
    Sie fuhren an Geschützen vorbei, die mit ihren Rüsseln in den Himmel starrten, an Panzern mit einem Kreuz auf der Stirn, an Lastwagen mit Planen, die im Wind knallten, an gepanzerten Fahrzeugen und Selbstfahrlafetten.
    Der eiserne Leib der 6. Armee, ihre Muskeln – am Boden festgefroren. Männer zogen langsam vorbei, und es war, als würden auch sie bald stehen bleiben und am Boden festfrieren.
    Michailow, der Fahrer und der mitfahrende Soldat vom Wachregiment warteten darauf, dass Paulus etwas sagen, rufen oder sich umdrehen würde. Aber er schwieg, und man konnte nicht verstehen, wohin seine Augen blickten und was sie in die Tiefe seines Herzens übermittelten.
    Hatte Paulus Angst, von seinen Soldaten gesehen zu werden? Oder wollte er gesehen werden? Auf einmal fragte Paulus Michailow: »Sagen Sie bitte, was ist ›Machorka‹?«
    Auch diese überraschende Frage half Michailow nicht, Paulus’ Gedanken zu durchschauen. Der Generalfeldmarschall machte sich Sorgen: um seine tägliche Suppe, um sein warmes Bett und darum, ob er auch genug zu rauchen haben würde.
    49
    Aus dem Keller eines zweistöckigen Gebäudes, in dem zuvor die Gestapo untergebracht war, trugen deutsche Gefangene die Leichen sowjetischer Männer hinaus.
    Einige Frauen, alte Männer und Knaben standen trotz der Kälte neben dem Wachposten und beobachteten, wie die Deutschen die Leichen auf den gefrorenen Boden legten.
    Die meisten der Deutschen hatten gleichgültige Mienen – sie bewegten sich schleppend und atmeten gehorsam den Leichengeruch ein.
    Nur einer von ihnen, ein junger Mann im Offiziersmantel, der sich ein schmutziges Taschentuch vor Mund und Nase gebunden hatte, warf ruckartig den Kopf hin und her wie ein Pferd, das von Bremsen umschwirrt wird. In seinen Augen lag ein Leid, das an Wahnsinn grenzte.
    Die Kriegsgefangenen stellten die Bahren auf den Boden und beugten sich eine Weile verstört über die Leichen, bevor sie sie herunternahmen – bei einigen Leichen waren Arme oder Beine abgetrennt, und die Deutschen überlegten, zu welcher Leiche dieses oder jenes Glied gehörte, um es dann zu dem Rumpf zurückzulegen. Die meisten der Toten waren halb nackt oder in Unterwäsche, manche hatten Militärhosen an. Ein Toter war splitternackt – sein Mund war schreiend aufgerissen, sein eingefallener Bauch klebte fast an der Wirbelsäule, er hatte rötliches Schamhaar und spindeldürre

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