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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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ihrer Wattejacke nach dem Stück Brot, das ihr ein Rotarmist am Vortag geschenkt hatte, streckte es dem Deutschen entgegen und sagte: »Hier, nimm, friss!«
    Später konnte sie selbst nicht verstehen, wie es geschehen war, warum sie so gehandelt hatte. In schweren Stunden der Beschimpfungen, der Hilflosigkeit und des Grolls verlor sie die Fassung und konnte nachts nicht schlafen. Ihr Leben war voll von kränkenden Erlebnissen: Einmal hatte sie sich mit der Nachbarin geprügelt, weil diese sie beschuldigt hatte, ein Fläschchen Speiseöl gestohlen zu haben, der Vorsitzende des Bezirkssowjets hatte sie einmal aus seinem Arbeitszimmer hinausgeworfen, weil er ihre Beschwerden nicht anhören wollte, ihr Sohn hatte nach der Heirat versucht, sie aus der Wohnung zu drängen, und von der schwangeren Schwiegertochter war sie als alte Hure beschimpft worden. Als sie später eines Nachts wach im Bett lag, mürrisch und böse, erinnerte sie sich an diesen Wintermorgen und dachte: »Ich war dumm und bin dumm geblieben.«
    50
    Im Stab des Panzerkorps von Nowikow trafen beunruhigende Nachrichten über die Brigadekommandeure ein. Die Aufklärung hatte neue deutsche Panzer- und Artillerieeinheiten entdeckt, die an den Kämpfen nicht teilgenommen hatten. Offenbar führte der Gegner die Reserven aus dem Hinterland heran.
    Diese Nachrichten beunruhigten Nowikow: Die vorderen Einheiten rückten vor, ohne ihre Flanken zu sichern, und wenn es dem Gegner gelänge, die wenigen Winterwege abzuschneiden, würden die Panzer ohne Unterstützung der Infanterie und ohne Treibstoff stecken bleiben.
    Nowikow diskutierte die Lage mit Getmanow; er war der Meinung, dass es an der Zeit sei, die in der Etappe gebliebenen Einheiten vorzuziehen und den Vormarsch der Panzer für kurze Zeit zu stoppen. Getmanow wollte unbedingt, dass das Korps die Befreiung der Ukraine einleitete. Sie beschlossen, dass Nowikow zur Truppe fahren und an Ort und Stelle die Lage prüfen solle; Getmanow sollte dafür sorgen, dass die zurückgebliebenen Einheiten nachrückten.
    Vor seiner Fahrt zu den Brigaden rief Nowikow den stellvertretenden Oberbefehlshaber der Front an und schilderte ihm die Lage. Er wusste die Antwort des stellvertretenden Befehlshabers im Voraus; er würde die Verantwortung sicherlich nicht übernehmen wollen; er würde den Vormarsch des Korps nicht stoppen und Nowikow nicht empfehlen, ihn fortzusetzen.
    Und in der Tat, der stellvertretende Oberbefehlshaber forderte von der Aufklärungsabteilung der Fronten dringend Daten über den Gegner an und versprach, den Oberbefehlshaber über die Unterredung mit Nowikow zu informieren.
    Danach setzte sich Nowikow mit seinem Nachbarn, dem Kommandeur des Schützenkorps Molokow, in Verbindung. Molokow war ein grober, reizbarer Mann, der stets die Nachbarn verdächtigte, dass sie dem Oberbefehlshaber ungünstige Informationen über ihn zukommen ließen. Sie stritten sich, fluchten unflätig, bezogen sich dabei allerdings nicht auf bestimmte Personen, sondern nur auf den immer größer werdenden Abstand zwischen den Panzern und der Infanterie. Nowikow rief den Nachbarn zur Linken an, den Kommandeur einer Artilleriedivision. Der sagte, dass er ohne Befehl der Frontleitung keinen Schritt weiter machen werde. Nowikow verstand seine Überlegungen – der Artillerist wollte nicht in eine Helferrolle gedrängt werden, nicht die Panzerattacke vorbereiten, sondern selbst angreifen.
    Als das Gespräch mit dem Artilleristen beendet war, kam der Stabschef zu Nowikow. Noch nie hatte Nowikow ihn so ungeduldig und aufgeregt gesehen.
    »Genosse Oberst«, sagte Neudobnow, »der Stabschef der Luftstreitkräfte hat mich angerufen, man will die uns unterstützenden Flugzeuge an die linke Frontflanke verlegen.«
    »Sind die verrückt geworden?«, schrie Nowikow.
    »Es ist alles einfacher, als Sie denken«, sagte Neudobnow. »Manch einer hat kein Interesse daran, dass wir als Erste den Boden der Ukraine betreten. Für diese Sache den Suworow- oder Chmelnizki-Orden zu bekommen, wünschen sich viele. Ohne Deckung der Luftwaffe müssen wir das Korps stoppen.«
    »Ich werde gleich den Oberbefehlshaber anrufen«, sagte Nowikow. Aber bis zu ihm konnte er nicht vordringen, Jeremenko war zur Armee von Tolbuchin gefahren. Der Stellvertreter des Oberbefehlshabers, den Nowikow erneut anrief, wollte nichts entscheiden. Er wunderte sich nur, dass Nowikow nicht zu den Einheiten gefahren war.
    Nowikow antwortete: »Genosse Generalleutnant, wie kann man denn

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