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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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auf Genia.
    Seit mehr als drei Wochen war von Jewgenia Nikolajewna kein Brief gekommen. Wenn er von seinen Fahrten zu den Regimentern zurückgekehrt war, hatte er immer nachgesehen, ob Genia ihn im Vorbau des Stabsgebäudes erwartete. Sie war zu einem Teil seines Lebens geworden. Sie war bei ihm, wenn er mit den Brigadekommandeuren sprach, wenn ihn die Frontleitung am Telefon verlangte, wenn er in seinem Panzer zur vordersten Linie vordrang und der Panzer unter den Explosionen der deutschen Geschosse wie ein junges Pferd zitterte. Er erzählte Getmanow von seiner Kindheit und glaubte, von Genia zu erzählen.
    Er dachte: »Gott, hab ich eine Fahne, Genia hätte es sofort gemerkt.« Manchmal dachte er auch: »Das hätte sie sehen sollen.« Er fragte sich besorgt, was sie sagen würde, wenn sie erführe, dass er einen Major dem Kriegsgericht übergeben hatte.
    Er betrat den Bunker am vordersten Beobachtungsstand, und im Tabaksqualm, im Lärm der Telefonistenstimmen, der Schießereien und Minenexplosionen traf ihn plötzlich heiß der Gedanke an sie … Manchmal war er eifersüchtig auf ihr früheres Leben und wurde traurig. Manchmal kam sie in seinen Träumen zu ihm, er wachte auf und konnte nicht mehr einschlafen.
    Manchmal dachte er, dass ihre Liebe bis ans Lebensende dauern werde, manchmal überkam ihn die Angst, wieder allein sein zu müssen.
    Er bestieg den Wagen und blickte sich nach dem Weg um, der zur Wolga führte. Leer. Dann wurde er böse. Sie hätte längst hier sein müssen. Vielleicht war sie krank geworden? Und er erinnerte sich wieder, wie er sich 1939 hatte erschießen wollen, als er von ihrer Heirat erfahren hatte. Warum liebte er sie denn so? Er hatte doch Frauen gehabt, die nicht schlechter waren. War es Glück oder eine Art Krankheit, wenn man ununterbrochen an einen Menschen dachte? Gott sei Dank, dass er mit keinem Mädchen aus dem Stab angebändelt hatte. Wenn sie käme, hätte er eine ganz saubere Weste. Na ja, vor drei Wochen hatte er doch nicht widerstehen können … Vielleicht würde Genia unterwegs im selben Haus übernachten, und die junge Frau dort würde sich mit ihr unterhalten und »diesen tollen Oberst« beschreiben. Was für dummes Zeug einem so einfällt …
    51
    Am nächsten Tag, gegen Mittag, kehrte Nowikow zurück. Unterwegs hatte es ihn auf den von Panzerketten zerklüfteten Straßen gehörig durcheinandergeschüttelt, Kreuz, Rücken und Schultern taten ihm weh. Ihm war, als hätten ihn die Panzerfahrer, die tagelang ohne Schlaf waren, mit ihrer Erschöpfung und Benommenheit angesteckt. Als er sich dem Stabsgebäude näherte, sah Nowikow, wie Jewgenia Nikolajewna mit Getmanow vor dem Haus stand und dem sich nähernden Wagen entgegenblickte. Eine Feuerwelle versengte ihn, in seinem Kopf hämmerte es, er erstickte fast vor Freude und wollte am liebsten noch im Fahren aus dem Wagen springen.
    Da sagte Werschkow, der auf dem Rücksitz saß: »Da steht ja der Kommissar mit seiner Ärztin, schnappt frische Luft. Es wäre nicht schlecht, seiner Frau ein Foto nach Hause zu schicken, die würde sich bestimmt freuen.«
    Nowikow ging in den Stab und nahm von Getmanow einen Brief entgegen. Er erkannte Jewgenia Nikolajewnas Handschrift und steckte den Brief in die Tasche.
    »Also, hör dir meinen Bericht an«, sagte er zu Getmanow.
    »Warum liest du denn den Brief nicht? Liebst du sie nicht mehr?«
    »Ich habe Zeit.«
    Neudobnow kam herein. Sie begrüßten sich, und Nowikow sagte: »Die Männer sind das Problem. Sie schlafen in den Panzern während der Schlacht ein. Kippen um. Einschließlich der Brigadekommandeure. Mit Karpow geht es noch einigermaßen, aber Below, der ist im Gespräch mit mir eingedöst. Fünf Tage auf dem Marsch. Die Fahrer schlafen ein, können vor Übermüdung nichts mehr essen.«
    »Und wie schätzt du die Lage ein, Pjotr Pawlowitsch?«, fragte Getmanow.
    »Der Deutsche bleibt passiv. An unserem Abschnitt ist mit einem Gegenschlag nicht zu rechnen. Die sind fertig, Fretter-Pico ist erledigt.«
    Er redete, seine Finger aber tasteten den Briefumschlag ab. Für einen Augenblick ließ er ihn los, griff aber schnell wieder nach ihm, als habe er Angst, der Brief könne aus der Tasche verschwinden.
    »Also, alles klar, alles wie gehabt«, sagte Getmanow. »Jetzt hör mal zu, was ich zu berichten habe: Ich bin mit dem General in höchste Höhen vorgestoßen. Habe mit Nikita Sergejewitsch gesprochen, er hat zugesagt, dass die Luftsicherung in unserem Abschnitt nicht abgezogen

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