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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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Beine.
    Man konnte sich schwer vorstellen, dass diese Leichen noch vor kurzem lebendige Menschen gewesen waren, dass diese Toten mit den ausgestochenen Mündern und Augen Namen und Adressen gehabt hatten, dass sie hatten sagen können: »Liebe, Teure, küss mich, vergiss mich nicht«, dass sie von einem Glas Bier geträumt und Selbstgedrehte geraucht hatten.
    Das spürte offenbar nur der Offizier mit dem Tuch vor dem Mund. Aber gerade er verärgerte die Frauen, die am Kellereingang standen; sie beobachteten ihn aufmerksam, während sie den übrigen Gefangenen gleichgültig zuschauten, von denen zwei Mäntel trugen, an denen die hellen Stellen der abgetrennten SS-Zeichen zu sehen waren.
    »Aha, du willst nicht hinsehen«, murmelte eine gedrungene Frau, die einen Knaben an der Hand hielt. Der Deutsche im Offiziersmantel spürte den Druck des langen, gierigen Blicks auf sich lasten, mit dem ihn die russische Frau beobachtete. Das Hassgefühl, das in ihr aufgestiegen war, suchte ein Ziel, fand aber kein geeignetes, so wie die elektrische Kraft, die sich über einem Wald in einer Gewitterwolke angesammelt hat, keine geeignete Verwendung findet und blindlings in irgendeinen Baumstamm einschlägt.
    Der Soldat, der mit dem Offizier die Bahre trug, war klein. Er hatte sich ein Handtuch mit Waffelmuster um den Hals gewickelt, und seine Beine steckten in Säcken, die mit Telefondraht befestigt waren.
    Die Blicke der Menschen, die schweigend dabeistanden, waren so böse, dass die Deutschen voller Erleichterung in den dunklen Keller gingen und es nicht eilig hatten, herauszukommen; sie zogen die Finsternis und den Gestank der frischen Luft und dem Tageslicht vor.
    Wenn die deutschen Gefangenen mit leeren Bahren zum Keller gingen, vernahmen sie die schon bekannten russischen Schimpfwörter und Flüche. Sie gingen, ohne ihre Schritte zu beschleunigen, denn sie spürten mit animalischem Instinkt, dass sie nur eine hastige Bewegung zu machen brauchten, und schon würde sich die Menge auf sie stürzen.
    Der Deutsche im Offiziersmantel schrie auf, und der russische Wachposten sagte mürrisch: »Keine Faxen, Bürschchen, oder willst du den Fritz da ersetzen, wenn er zusammenklappt?«
    Im Keller unterhielten sich die Soldaten: »Bis jetzt hat nur der Oberleutnant was abgekriegt.«
    »Hast du das Weib gesehen, wie die ihn anglotzt.«
    Aus dem Dunkel des Kellers kam eine Stimme: »Oberleutnant, Sie bleiben besser hier, sonst fangen die mit Ihnen an und hören mit uns auf.«
    Der Offizier murmelte mit schläfriger Stimme: »Nein, nein, man darf sich nicht verstecken, das ist das Jüngste Gericht …« Er wandte sich an seinen Partner und sagte: »Los, gehen wir.«
    Als sie das nächste Mal den Keller verließen, gingen der Offizier und sein Partner etwas schneller als sonst – die Last war leichter. Auf der Bahre lag der Leichnam eines jungen Mädchens. Er hatte sich zusammengezogen, war ausgetrocknet, und nur die hellen, zerwühlten Haare besaßen noch den milch- und weizenblonden Liebreiz, umrahmten das schreckliche, schwarzbraune Gesicht eines getöteten Vogels. Die Menge stöhnte leise auf.
    Die schrille Stimme der gedrungenen Frau durchschnitt wie ein Messer die frostige Luft.
    »Kind! Kindchen! Mein Kind!«
    Dieser Schrei nach dem fremden Kind erschütterte die Menschen. Die Frau begann, die Locken auf dem Kopf der Leiche zu streicheln. Sie betrachtete das Gesicht mit dem schiefen, versteinerten Mund und sah gleichzeitig – wie nur eine Mutter es kann – diese schrecklichen Züge und das lebendige, liebe Gesicht, das ihr einst aus den Windeln zugelächelt hatte.
    Die Frau stand auf. Sie tat einen Schritt auf den Deutschen zu, und alle sahen es. Ihre Augen schauten ihn an und suchten gleichzeitig nach einem Ziegel, der nicht mit den anderen Ziegeln zusammengefroren war, einem Ziegel, den ihre große, von schwerer Arbeit, eiskaltem Wasser und heißer Waschlauge verunstaltete Hand aufklauben konnte.
    Die Unvermeidlichkeit dessen, was geschehen würde, spürte auch der Wachposten; er konnte die Frau nicht zurückhalten, weil sie stärker war als er und seine Maschinenpistole. Die Deutschen konnten die Augen nicht von ihr abwenden, die Kinder beobachteten sie gespannt und ungeduldig.
    Die Frau sah nun nichts mehr als das Gesicht des Deutschen mit dem verhüllten Mund. Sie begriff selbst nicht, was mit ihr geschah, sie trug in sich eine Kraft, der alles ringsum gehorchte, und auch die Frau selbst gehorchte ihr. Sie tastete in der Tasche

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