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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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Zimmerdecke, dann fällt mir ein, dass auf unserem Boden die Deutschen sind, dass ich eine Aussätzige bin, und mir scheint, dass ich nicht aufgewacht, sondern im Gegenteil eingeschlafen bin und träume.
    Doch nach ein paar Minuten höre ich, wie sich Alja und Ljuba darüber streiten, wer an der Reihe sei, zum Brunnen zu gehen, höre die Leute darüber sprechen, dass die Deutschen nachts in der Nachbarstraße einem alten Mann den Schädel eingeschlagen haben.
    Eine Bekannte, Studentin an der Lehrerbildungsanstalt, kam zu mir und holte mich zu einem Kranken. Es stellte sich heraus, dass sie einen Leutnant versteckt hält, der an der Schulter verwundet ist und dessen Auge verbrannt ist. Ein sympathischer und abgequälter junger Mann mit dem Akzent eines Wolgarussen. Er hatte sich in der Nacht durch den Drahtverhau gearbeitet und im Ghetto Zuflucht gefunden. Sein Auge war nicht allzu stark beschädigt; es gelang mir, den Eiterungsprozess zu stoppen. Er erzählte viel über die Kämpfe, über die Flucht unserer Truppen und hat mich damit traurig gemacht. Er will sich erholen und dann durch die Frontlinie gehen. Es werden noch ein paar junge Burschen mit ihm ziehen, einer davon war mein Schüler. Ach, Vitjenka, wenn ich nur mit ihnen gehen könnte! Ich habe mich so gefreut, als ich diesem jungen Mann helfen konnte; ich hatte dabei das Gefühl, dass auch ich am Krieg gegen den Faschismus teilnehme.
    Sie brachten ihm Kartoffeln, Brot und Bohnen, und ein altes Mütterchen hat ihm Wollsocken gestrickt.
    Heute geht es den ganzen Tag dramatisch zu. Am Tag zuvor hat Alja durch eine russische Bekannte den Pass eines im Krankenhaus gestorbenen russischen jungen Mädchens erhalten. In der Nacht wird Alja fortgehen. Und heute haben wir von einem uns bekannten Bauern, der am Ghettozaun vorbeifuhr, erfahren, dass die Juden, die zum Kartoffelgraben getrieben worden waren, vier Werst außerhalb der Stadt, neben dem Flugplatz an der Straße nach Romanowka, tiefe Gräben ausheben. Präg Dir diesen Namen gut ein, Vitja, dort wirst Du das Massengrab finden, in dem Deine Mutter liegen wird.
    Sogar Sperling hat alles begriffen; den ganzen Tag über ist er bleich, seine Lippen zittern, und er fragt mich verstört: ›Gibt es eine Hoffnung, dass sie Spezialisten am Leben lassen?‹ Man erzählt sich, dass tatsächlich in einigen Flecken die besten Schneider, Schuster und Ärzte nicht hingerichtet wurden.
    Und dennoch hat Sperling abends den alten Ofensetzer kommen lassen, und der hat in die Wand ein Versteck für Mehl und Salz gemacht. Und ich habe abends mit Jura die ›Lettres de mon moulin‹ gelesen. Erinnerst Du Dich, als wir beide laut meine Lieblingserzählung ›Les vieux‹ lasen, einander ansahen, lachten und uns beiden die Tränen in den Augen standen? Darauf habe ich Jura Hausaufgaben für übermorgen aufgegeben. Es muss so sein. Doch wie war mir zumute, als ich das traurige Gesicht meines Schülers betrachtete, seine Finger, die in das Heftchen die Nummern der ihm aufgegebenen Grammatikparagrafen eintrugen.
    Wie viele dieser Kinder gibt es: wunderschöne Augen, dunkle Locken; es sind wahrscheinlich künftige Gelehrte, Physiker, Medizinprofessoren, Musiker, vielleicht auch Dichter unter ihnen.
    Ich sehe zu, wie sie morgens in die Schule rennen, unkindlich ernsthaft und mit weit aufgerissenen, tragischen Augen. Manchmal fangen sie an, zu toben und zu raufen und lauthals zu lachen, doch das macht einen nicht froher, man wird nur von Grauen gepackt.
    Es heißt, Kinder seien unsere Zukunft. Doch was sagst Du zu diesen Kindern? Es wird ihnen nicht vergönnt sein, Musiker, Schuster oder Zuschneider zu werden. Heute Nacht habe ich mir ganz deutlich vorgestellt, wie diese ganze lärmende Welt voller bärtiger, sorgenvoller Familienväter und griesgrämiger alter Mütterchen, die Honigkuchen und weiches Konfekt zaubern, diese Welt der Hochzeitsbräuche, Sprichwörter und Sabbatfeiertage für immer unter der Erde verschwinden wird. Nach dem Krieg wird das Leben neu erstehen, doch uns wird es nicht mehr geben, wir sterben aus wie die Azteken.
    Der Bauer, der uns die Nachricht vom Ausheben der Gräber gebracht hat, berichtet, dass seine Frau nachts geweint und laut gejammert habe: ›Sie nähen und sind Schuster und verarbeiten Leder und reparieren Uhren und verkaufen in der Apotheke Arznei … was wird nur sein, wenn man sie alle umgebracht hat?‹
    Und ebenso deutlich sehe ich, wie jemand, an den Trümmern vorübergehend, einmal sagen wird:

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