Leben und Schicksal
Übereinstimmung.
Der Faschismus hatte sich vom Begriff der individuellen Persönlichkeit, vom Begriff »Mensch« losgesagt und operierte mit riesigen Ganzheiten. Die moderne Physik sprach von größeren und kleineren Wahrscheinlichkeitsphänomenen in diesen oder jenen Ganzheiten physikalischer Individuen. Basierte der Faschismus in seiner entsetzlichen Mechanik etwa auf dem Gesetz der Quantenpolitik, der politischen Wahrscheinlichkeit?
Der Faschismus war zur Idee der Vernichtung ganzer Bevölkerungsschichten, nationaler und rassischer Gemeinschaften gelangt, weil die Wahrscheinlichkeit des unterschwelligen und offenen Widerstands in diesen Schichten und Zwischenschichten größer war als in anderen Schichten und Gruppen. Die Gesetze der Wahrscheinlichkeitstheorie, angewendet auf menschliche Ganzheiten.
Aber nein, natürlich nicht! Der Faschismus würde untergehen, weil er darauf verfallen war, die Gesetze von Atomen und Pflastersteinen auf den Menschen anzuwenden!
Faschismus und Mensch konnten nicht gemeinsam existieren. Wenn der Faschismus siegte, würde der Mensch aufhören zu existieren, es würden nur innerlich verformte, menschenähnliche Wesen übrig bleiben. Doch wenn der Mensch siegte, ausgestattet mit Freiheit, Vernunft und Güte, würde der Faschismus untergehen, und diejenigen, die sich ihm unterworfen hatten, würden wieder zu Menschen werden.
Hieß das nicht, die Gedanken seines Freundes Tschepyschin über den Sauerteig anzuerkennen, die er diesen Sommer noch attackierthatte? 11 Es kam ihm vor, als habe das Gespräch mit Tschepyschin in endlos ferner Vergangenheit stattgefunden, als lägen Jahrzehnte zwischen dem Moskauer Sommerabend und dem Heute.
Ihm war, als sei damals ein anderer, nicht er, Strum, über den Trubnaplatz gegangen, als habe ein anderer voller Erregung zugehört und hitzig und voller Selbstbewusstsein diskutiert. Mutter … Marussja … Tolja …
Es gab Augenblicke, da erschien ihm die Wissenschaft als eine Täuschung, die ihn daran hinderte, den Wahnwitz und die Grausamkeit des Lebens wahrzunehmen.
Vielleicht war die Wissenschaft nicht zufällig zur Gefährtin dieses schrecklichen Jahrhunderts geworden, vielleicht war sie seine Verbündete. Wie einsam fühlte er sich. Er hatte niemanden, dem er seine Gedanken hätte anvertrauen können. Tschepyschin war weit weg. Postojew fand das alles verschroben und uninteressant. Und Sokolow hatte einen Hang zur Mystik, gepaart mit seiner seltsamen religiösen Unterwürfigkeit gegenüber neronischer Grausamkeit und Ungerechtigkeit.
In seinem Labor arbeiteten zwei hervorragende Wissenschaftler, der Experimentalphysiker Markow und der kluge Sawostjanow, ein Freund des Alkohols. Doch wenn Strum mit ihnen über all das hätte sprechen wollen, hätten sie ihn für einen Psychopathen gehalten.
Er holte den Brief seiner Mutter aus dem Schreibtisch und las ihn wieder.
»Vitja, ich bin sicher, dass Dich mein Brief erreichen wird, obwohl ich mich hinter der Frontlinie und hinter dem Stacheldraht des jüdischen Ghettos befinde … Woher soll ich die Kraft nehmen, mein lieber Sohn …«
Und die kalte Klinge schlug wieder gegen seine Kehle.
20
Ljudmila Nikolajewna holte aus dem Briefkasten einen Feldpostbrief.
Mit großen Schritten eilte sie ins Zimmer, hielt das Kuvert gegen das Licht und riss den Umschlag aus grobem Papier an der Kante auf.
Für einen Augenblick stellte sie sich vor, dass aus dem Kuvert Fotos von Tolja herausfallen würden – Tolja als winziges Baby, als er den Kopf noch nicht halten konnte, nackt auf einem Kissen liegend, mit den Bärenfüßchen in der Luft strampelnd und die Lippen spitzend.
Auf scheinbar unerklärliche Weise verschlang sie, ohne die Worte im Einzelnen zu lesen, die Zeilen, geschrieben in der sauberen Handschrift eines ungeübten Schreibers, saugte sie in sich auf und begriff: Er lebt, er ist am Leben!
Sie las, dass Tolja an Brust und Hüfte schwer verwundet war, dass er viel Blut verloren hatte und zu schwach sei, selbst zu schreiben, dass er schon seit vier Wochen fieberte … Doch Tränen des Glücks verschleierten ihr die Augen, so groß war ihre Verzweiflung noch im Augenblick davor gewesen.
Sie ging auf die Treppe hinaus, las die ersten Zeilen des Briefes und trat, ruhig geworden, in den Holzschuppen. Dort, im kalten Dämmerlicht, las sie die Mitte und den Schluss des Briefes und begriff nach kurzem Nachdenken, dass der Brief ein Abschied war.
Ljudmila Nikolajewna begann, Brennholz in den Sack zu
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