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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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Vergnügen durch den Drahtverhau auf Kinder, und immer neue Leute bestätigen, dass sich unser Schicksal jeden Tag entscheiden kann.
    So geht es eben – die Menschen leben weiter. Neulich hatten wir sogar eine Hochzeit. Gerüchte kommen haufenweise auf. Einmal teilt der Nachbar, vor Freude keuchend, mit, dass unsere Truppen zum Angriff übergegangen seien und die Deutschen in die Flucht gejagt hätten. Dann entsteht plötzlich das Gerücht, die sowjetische Regierung und Churchill hätten den Deutschen ein Ultimatum gestellt und Hitler hätte befohlen, die Juden nicht umzubringen. Dann wieder heißt es, die Juden würden gegen deutsche Kriegsgefangene ausgetauscht.
    Es zeigt sich, dass es nirgendwo so viel Hoffnung gibt wie im Ghetto. Die Welt ist voller Ereignisse, und alle Ereignisse, ihr Sinn und ihre Ursache, laufen immer auf ein und dasselbe hinaus – auf die Rettung der Juden. Was für ein Reichtum an Hoffnungen!
    Die Quelle dieser Hoffnungen ist allein der Selbsterhaltungstrieb, der sich, bar jeder Logik, gegen die grauenhafte Unbedingtheit unseres spurlosen Untergangs auflehnt. Ich sehe mich um und kann es nicht glauben – sind wir wirklich alle zum Tode Verurteilte, die auf ihre Hinrichtung warten? Die Friseure, Schuster, Schneider, Ärzte und Ofensetzer, alle arbeiten sie. Es ist sogar ein kleines Entbindungsheim aufgemacht worden, vielmehr der schwache Abklatsch eines Entbindungsheims. Wäsche trocknet, Wäsche wird gewaschen, das Mittagessen wird gekocht, die Kinder gehen seit dem ersten September in die Schule, und die Mütter erkundigen sich bei den Lehrern nach den Noten ihrer Kinder.
    Der alte Spielberg hat ein paar Bücher neu binden lassen. Alja Sperling macht morgens Gymnastik und dreht sich vor dem Schlafengehen die Haare auf Lockenwickler auf, streitet sich mit dem Vater herum, weil sie irgendwelche Stoffe für zwei Sommerfähnchen haben will.
    Auch ich bin von morgens bis abends beschäftigt, mache Krankenbesuche, gebe Stunden, stopfe, wasche, bereite mich auf den Winter vor und unterlege meinen Herbstmantel mit Watte. Ich höre mir Berichte an über Strafmaßnahmen, die gegen Juden verhängt wurden: Eine Bekannte, die Frau eines Rechtsberaters, wurde bis zur Bewusstlosigkeit verprügelt, weil sie ein Entenei für ihr Kind gekauft hatte; einem Buben, dem Sohn des Provisors Sirota, haben sie die Schulter durchschossen, weil er versucht hatte, unter dem Stacheldraht durchzukriechen, um seinen weggerollten Ball zu holen. Und immer wieder Gerüchte, Gerüchte, Gerüchte.
    Was jetzt kommt, ist kein Gerücht. Heute haben die Deutschen achtzig junge Männer zur Arbeit getrieben, angeblich zum Kartoffelgraben; einige haben sich gefreut, sie könnten vielleicht ein paar Kartoffeln für die Angehörigen mit heimbringen. Doch ich habe begriffen, von welchen Kartoffeln die Rede ist.
    Die Nacht im Ghetto ist eine besondere Zeit, Vitja. Weißt Du, mein Freund, ich habe Dich immer dazu angehalten, mir die Wahrheit zu sagen; der Sohn muss seiner Mutter immer die Wahrheit sagen. Doch auch die Mutter muss ihrem Sohn die Wahrheit sagen. Denk nicht, Vitjenka, dass Deine Mama ein starker Mensch sei. Ich bin schwach. Ich habe Angst vor Schmerzen und bin feige, wenn ich im Zahnarztstuhl sitze. Als Kind hatte ich Angst vor dem Donner und fürchtete mich vor der Dunkelheit. Als alte Frau fürchtete ich Krankheit und Einsamkeit, hatte Angst davor, krank zu werden, weil ich dann nicht mehr arbeiten könnte und Dir zur Last fallen würde und Du mich das vielleicht spüren ließest. Ich hatte Angst vor dem Krieg. In den Nächten jetzt, Vitja, packt mich solches Grauen, dass mir das Herz zu Eis erstarrt. Auf mich wartet der Tod. Ich möchte Dich zu Hilfe rufen.
    Als Kind bist Du einmal Schutz suchend zu mir gerannt. Und nun möchte ich in schwachen Minuten meinen Kopf in Deinem Schoß verbergen, damit Du, der Kluge und Starke, mich verteidigst, mich schützt. Meine Seele ist nicht immer stark, Vitja, sie ist auch schwach. Oft denke ich an Selbstmord, ich weiß nicht, was mich davon abhält – Schwäche, Stärke oder einfach sinnlose Hoffnung.
    Genug davon. Ich schlafe ein und sehe Traumbilder. Oft sehe ich meine verstorbene Mutter und spreche mit ihr. Heute Nacht sah ich im Traum Alexandra Schaposchnikowa, als wir zusammen in Paris lebten. Doch Dich habe ich noch kein einziges Mal im Traum gesehen, obwohl ich ständig an Dich denke, sogar in den schlimmsten Augenblicken der Angst. Ich wache auf und sehe plötzlich diese

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