Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
Vom Netzwerk:
›Erinnerst du dich, hier wohnten mal Juden, der Ofensetzer Boruch. Am Samstagabend saß seine Alte auf der Bank, und neben ihr spielten Kinder.‹ Und der Zweite wird sagen: ›Und dort, unter dem alten Birnbaum, saß immer die Ärztin, ich habe ihren Namen vergessen, ich hab mir mal von ihr die Augen behandeln lassen, nach der Arbeit trug sie immer einen Korbstuhl hinaus und saß mit einem Buch im Freien.‹ So wird es sein, Vitja.
    Als habe ein Pesthauch die Gesichter gestreift, so spüren es jetzt alle, dass es zu Ende geht.
    Vitjenka, ich möchte Dir sagen … nein, das nicht, das nicht.
    Vitjenka, ich beschließe diesen Brief, bringe ihn an den Ghettozaun und übergebe ihn meinem Freund. Es fällt mir nicht leicht, diesen Brief abzubrechen, er ist mein letztes Gespräch mit Dir. Wenn ich den Brief übergebe, gehe ich endgültig von Dir, Du wirst niemals mehr etwas über meine letzten Stunden erfahren. Dies ist unser allerletzter Abschied. Was soll ich Dir zum Abschied vor der ewigen Trennung sagen? In diesen Tagen, wie auch in meinem ganzen Leben, warst Du meine Freude. In den Nächten rief ich mir Dich in Erinnerung, Deine Kinderkleider, Deine ersten Bücher, erinnerte mich an Deinen ersten Brief, Deinen ersten Schultag; an alles, alles erinnerte ich mich, von Deinen ersten Lebenstagen an bis zu dem letzten Lebenszeichen von Dir, dem Telegramm, das ich am 30. Juni bekommen habe. Ich schloss die Augen, und mir war, als nähmst Du mich vor dem heranrückenden Grauen in Schutz, mein Freund. Und wenn ich mich wieder auf das besann, was um mich herum geschah, dann freute ich mich, dass Du nicht an meiner Seite bist – möge das furchtbare Schicksal an Dir vorübergehen!
    Vitja, ich war immer einsam. In schlaflosen Nächten weinte ich vor Kummer. Das hat wohl niemand gewusst. Ich fand Trost in dem Gedanken, dass ich Dir einmal von meinem Leben erzählen würde. Ich wollte Dir erzählen, warum ich mich von Deinem Vater scheiden ließ, warum ich lange Jahre allein gelebt habe. Oft dachte ich: Wie wird sich Vitja wundern, wenn er erfährt, dass seine Mutter Fehler gemacht, sich dumm angestellt hat und eifersüchtig war, dass man auf sie eifersüchtig war, dass sie so war, wie alle jungen Frauen sind. Doch es ist mein Schicksal, mein Leben einsam zu beschließen, ohne mich Dir anvertraut zu haben. Manchmal glaubte ich, dass ich nicht so fern von Dir leben dürfe. Allzu sehr liebte ich Dich und dachte, dass mir die Liebe das Recht gäbe, im Alter bei Dir zu sein. Manchmal glaubte ich wieder, dass ich nicht mit Dir zusammenleben dürfe, allzu sehr liebte ich Dich.
    Na, enfin … Sei immer glücklich mit denen, die Du liebst, die um Dich sind, die Dir näher als die Mutter geworden sind. Vergib mir!
    Von der Straße ist das Weinen einer Frau und das Fluchen von Polizisten zu hören; ich betrachte diese Seiten und habe das Gefühl, dass ich vor der grauenvollen, leiderfüllten Welt geschützt bin.
    Wie soll ich diesen Brief beenden? Woher soll ich die Kraft nehmen, mein lieber Sohn? Hat der Mensch denn Worte, die meine Liebe zu Dir ausdrücken könnten? Ich küsse Dich, Deine Augen, Deine Stirn, Dein Haar.
    Denk daran, dass immer, in Tagen des Glücks und in Tagen des Kummers, die Liebe Deiner Mutter bei Dir ist; diese Liebe vermag niemand zu ermorden.
    Vitjenka … dies ist die letzte Zeile des letzten Briefes Deiner Mutter an Dich. Lebe, lebe, lebe ewig … Mama.«
    19
    Vor dem Krieg hatte Strum nie daran gedacht, dass er Jude war, dass seine Mutter Jüdin war. Nie hatte die Mutter mit ihm darüber gesprochen, weder in seiner Kindheit noch in seiner Studentenzeit. Niemals während seines Studiums an der Moskauer Universität hatte ihn auch nur ein einziger Student, Professor oder Seminarleiter darauf angesprochen.
    Niemals vor dem Krieg hatte er im Institut oder in der Akademie der Wissenschaften Gespräche darüber anhören müssen.
    Niemals war auch nur einmal der Wunsch in ihm erwacht, mit Nadja darüber zu sprechen, ihr zu erklären, dass ihre Mutter Russin war, ihr Vater aber Jude.
    Das Jahrhundert Einsteins und Plancks war zugleich das Jahrhundert Hitlers. Die Gestapo und die Renaissance der Wissenschaft waren von der gleichen Zeit hervorgebracht worden. Wie menschlich war das neunzehnte Jahrhundert, das Jahrhundert der naiven Physik, im Vergleich zum zwanzigsten. Das zwanzigste Jahrhundert hatte seine Mutter getötet. Zwischen den Prinzipien des Faschismus und denen der modernen Physik bestand eine grauenvolle

Weitere Kostenlose Bücher