Leben und Schicksal
Behandlung ein Stück Brot überreichen, ein Zwiebelchen, eine Handvoll Bohnen!
Glaub mir, Vitjenka, das ist nicht die Bezahlung für den Arztbesuch. Wenn mir ein alter Arbeiter die Hand drückt, zwei, drei Kartöffelchen in die Handtasche steckt und sagt: ›Schon gut, Frau Doktor, ich bitte Sie‹, dann kommen mir die Tränen. Es liegt darin etwas so Reines, Väterliches und Gütiges, dass ich es Dir mit Worten gar nicht wiedergeben kann.
Ich möchte Dich nicht damit trösten, dass ich diese Zeit leicht überstanden habe. Du solltest Dich darüber wundern, dass mein Herz nicht vor Schmerz zersprungen ist. Doch quäl Dich nicht mit dem Gedanken, dass ich gehungert haben könnte, ich war diese ganze Zeit über nicht einmal hungrig. Und außerdem – ich habe mich nicht einsam gefühlt.
Was soll ich Dir über die Menschen hier erzählen, Vitja? Die Menschen verblüffen mich im positiven und im negativen Sinn. Sie sind unglaublich verschieden, obwohl sie das gleiche Schicksal erfahren. Du kannst Dir vorstellen, wenn sich bei einem Gewitter die meisten Leute vor dem Regenguss in Sicherheit bringen wollen, dann heißt das ja auch noch lange nicht, dass diese Leute alle gleich sind. Und außerdem schützt sich jeder auf seine Weise vor dem Regen …
Doktor Sperling ist überzeugt, dass die Judenverfolgungen eine vorübergehende Erscheinung sind und nach dem Krieg aufhören werden. Leute wie ihn gibt es eine ganze Menge, und mir ist aufgefallen, dass die Menschen umso kleinlicher und egoistischer sind, je mehr Optimismus sie noch haben. Wenn irgendjemand während des Mittagessens kommt, verstecken Alja und Fanni Borissowna gleich das Essen.
Sperlings sind gut zu mir, vor allem deshalb, weil ich wenig esse und mehr Lebensmittel heimbringe, als ich verbrauche. Doch ich habe beschlossen, von ihnen wegzuziehen, sie sind mir unangenehm. Ich werde mir einen Winkel suchen. Je größer der Kummer im Menschen ist, desto weniger Hoffnung setzt er auf das Überleben, desto großherziger, gütiger und besser wird er.
Die Armen – Klempner, Schneider, Näherinnen –, die zum Untergang verdammt sind, sind bei weitem dankbarer, großzügiger und verständnisvoller als die, die sich listenreich mit Lebensmitteln eingedeckt haben. Die jungen Lehrerinnen, der verschrobene alte Lehrer und Schachspieler Spielberg, die stillen Bibliothekarinnen, der Ingenieur Reiwitsch, der hilfloser als ein Kind ist und davon träumt, das Ghetto mit selbstgebastelten Granaten auszurüsten – was sind das alles für wunderbare, unpraktische, liebe, traurige, gütige Menschen.
Hier erkenne ich, dass die Hoffnung fast nie etwas mit Vernunft zu tun hat, sie wird wohl aus dem Instinkt geboren.
Die Menschen, Vitja, leben so, als hätten sie noch lange Jahre vor sich. Man darf das weder als Dummheit noch als Klugheit auffassen, es ist einfach so. Und auch ich unterwerfe mich diesem Gesetz. Zwei Frauen aus dem Marktflecken sind hierhergekommen und erzählen das Gleiche, was mir mein Freund erzählt hat. Die Deutschen vernichten im Umkreis alle Juden, ohne Kinder und Greise zu schonen. Die Deutschen und die Polizei kommen in Autos angefahren und holen ein paar Dutzend Männer zur Feldarbeit; die graben tiefe Gräben, und zwei bis drei Tage danach treiben die Deutschen die jüdische Bevölkerung zu diesen Gräben und erschießen alle ohne Ausnahme. Überall in den Marktflecken um unsere Stadt herum wachsen diese jüdischen Hügelgräber aus dem Boden.
Im Nachbarhaus wohnt ein Mädchen aus Polen. Sie erzählt, dass Massaker dort an der Tagesordnung seien; die Juden würden alle bis zum letzten Mann abgeschlachtet, nur in ein paar Ghettos – in Warschau, Łódź und Radom – hätten sich noch Juden erhalten. Als ich das alles überdachte, wurde mir sonnenklar, dass man uns hier nicht versammelt hat, um uns zu erhalten, wie die Wisente im Bjelowescher Naturschutzgebiet, sondern um uns zu schlachten. Planmäßig werden wir in ein, zwei Wochen an die Reihe kommen. Doch stell Dir vor, obwohl ich das begriffen habe, behandle ich die Kranken weiter und sage: ›Wenn Sie die Augen regelmäßig mit der Medizin baden, werden Sie in zwei bis drei Wochen gesund sein.‹ Ich beobachte einen alten Mann, dem man in einem halben bis einem Jahr vielleicht den Star operativ entfernen muss.
Ich gebe Jura Französischunterricht und ärgere mich über seine falsche Aussprache.
Und gleichzeitig brechen die Deutschen ins Ghetto ein und plündern, die Wachposten schießen zum
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