Leben und Schicksal
packen. Obwohl ihr der Doktor, von dem sie sich in Moskau in der Poliklinik hatte behandeln lassen, streng verboten hatte, Lasten über drei Kilogramm zu heben und sich rasch und ruckartig zu bewegen, schulterte Ljudmila Nikolajewna ächzend wie eine Bäuerin den Sack voll grauer Holzscheite und stieg, ohne anzuhalten, in den ersten Stock hinauf. Sie ließ den Sack auf den Boden plumpsen; das Geschirr auf dem Tisch klirrte unter der Erschütterung.
Ljudmila zog den Mantel an, band das Tuch um den Kopf und ging auf die Straße hinaus.
Die Passanten überholten sie und blickten sich dann nach ihr um.
Sie überquerte die Straße; die Straßenbahn klingelte schrill, und die Wagenführerin drohte ihr mit der Faust.
Wenn sie rechts in die Gasse einbog, käme sie zur Fabrik, wo ihre Mutter arbeitete.
Sollte Tolja sterben, würde sein Vater nichts davon erfahren. In welchem Lager sollte man ihn suchen, vielleicht war er schon lange tot …
Ljudmila Nikolajewna ging zu Viktor Pawlowitsch ins Institut. Als sie am Häuschen der Sokolows vorbeikam, trat sie in den Hof, klopfte ans Fenster, doch der Vorhang blieb zugezogen – Marja Iwanowna war nicht zu Hause.
»Viktor Pawlowitsch ist gerade in sein Büro gegangen«, sagte jemand zu ihr; sie bedankte sich, obwohl sie nicht begriff, wer mit ihr sprach, ein Bekannter oder Unbekannter, ein Mann oder eine Frau, und ging in den Laborraum, wo wie immer anscheinend niemand ernsthaft arbeitete. Normalerweise sah es im Labor so aus, als plauderten die Männer oder schauten rauchend in ein Buch; die Frauen aber waren immer beschäftigt: Entweder kochten sie in den Kolben Tee, oder sie entfernten mit einem Lösungsmittel ihren Nagellack, oder sie strickten.
Ljudmila registrierte Kleinigkeiten, zahllose Kleinigkeiten, zum Beispiel das Papier, aus dem sich ein Laborant eine Zigarette drehte.
In Viktor Pawlowitschs Büro wurde sie laut begrüßt. Sokolow kam rasch auf sie zu, fast rennend, und schwenkte ein großes weißes Kuvert:
»Sie machen uns Hoffnung; es besteht der Plan beziehungsweise die Aussicht, wieder nach Moskau zurückevakuiert zu werden, mit allen Habseligkeiten und Apparaturen und mit den Familien. Nicht schlecht, was? Allerdings stehen die Termine noch nicht völlig fest. Aber immerhin!«
Sein freudig erregtes Gesicht und seine Augen waren ihr zuwider. Wäre Marja Iwanowna wohl genauso froh auf sie zugelaufen? Nein, nein. Marja Iwanowna hätte sofort alles begriffen, hätte es ihr am Gesicht abgelesen.
Hätte sie gewusst, dass sie so viele glückliche Gesichter sehen würde, wäre sie natürlich nicht zu Viktor gegangen. Auch Viktor freute sich, und seine Freude würde abends nach Hause kommen – und Nadja würde glücklich sein; sie würden das verhasste Kasan verlassen.
Waren alle diese Menschen, so viele es auch sein mochten, das junge Blut wert, mit dem diese Freude erkauft wurde?
Vorwurfsvoll richtete sie den Blick auf ihren Mann.
Er fing ihren düsteren Blick auf – mit verstehenden Augen, in denen Unruhe und Besorgnis zu lesen waren.
Als sie allein waren, sagte er ihr, dass er sofort, kaum als sie eingetreten war, begriffen habe, dass ein Unglück geschehen sei.
Er las den Brief und sagte immer wieder:
»Was soll man nur machen, mein Gott, was denn nur?«
Viktor Pawlowitsch zog den Mantel an. Sie gingen zum Ausgang.
»Ich komme heute nicht«, sagte er zu Sokolow, der neben dem neuen, kürzlich ernannten Personalchef Dubenkow stand, einem großen Mann mit rundem Kopf in einem weiten, modischen Jackett, das für seine breiten Schultern immer noch zu eng war.
Strum sagte, einen Augenblick Ljudmilas Hand loslassend, mit gedämpfter Stimme zu Dubenkow:
»Wir wollten damit anfangen, die Listen für Moskau zusammenzustellen, aber heute kann ich nicht, ich erkläre es später.«
»Weshalb sich aufregen, Viktor Pawlowitsch«, sagte Dubenkow mit weichem Bass. »Vorläufig besteht kein Grund zur Eile. Das ist eine Planung für die Zukunft. Ich nehme die grobe Arbeit auf mich.«
Sokolow winkte ab und nickte. Er ahnte wohl etwas von dem neuen Kummer, der Strum getroffen hatte.
Kalter Wind fegte durch die Straßen und wirbelte den Staub auf; er schnürte ihn zu einem Bündel, dann plötzlich schleuderte er ihn fort, verstreute ihn wie schwarze, ungenießbare Graupen. Eine unerbittliche Härte war in dieser Kälte, in dem knöchernen Klopfen der Zweige, im eisigen Blau der Straßenbahnschienen.
Seine Frau wandte ihm ihr vom Leid verjüngtes, eingefallenes,
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