Leben und Schicksal
nicht zur Kenntnis genommen.
Bald darauf erkrankte Grossman an Krebs und starb noch vor seinem 60. Geburtstag einen qualvollen Tod. Er brachte ihn mit der Verhaftung seines Romans in Zusammenhang und sagte auf dem Sterbebett: »Sie haben mich im Torweg erwürgt.« Er meinte damit, man hätte ihn so erwürgt, dass niemand etwas davon bemerkt hätte. Niemand oder fast niemand kannte seinen Roman und wusste, warum ihn dieses Schicksal ereilt hatte. Ich habe viel darüber nachgedacht, zumal ich von Anna Samoilowna Berser, meiner (und Grossmans) Redakteurin, die den Roman gelesen hatte, nur begeisterte Lobesworte darüber zu hören bekam. Ich konnte nicht glauben, dass der Roman spurlos verschwunden war. Sollte Grossman wirklich so leichtsinnig gewesen sein und nicht dafür gesorgt haben, dass ein Exemplar des Manuskripts erhalten blieb? Ich wusste, dass Semjon Lipkin mit Grossman befreundet war, und mutmaßte, dass er etwas wusste, was wir nicht wussten. Als ich nun von ihm erfuhr, dass er das Manuskript hatte, freute ich mich mehr, als dass ich mich wunderte, und war sofort einverstanden, keine Mühe zu scheuen, um es in den Westen zu schleusen. Ich war dazu in der Lage, denn ich war gerade erst aus dem sowjetischen Schriftstellerverband ausgeschlossen worden und befand mich in der Situation eines Dissidenten, das heißt eines von der Staatsmacht verfolgten Menschen, der den nicht Verfolgten gegenüber den Vorzug besaß, dass er nichts mehr zu fürchten brauchte. Zudem hatte ich viele Freunde unter westlichen Journalisten und Diplomaten, auf deren Hilfe ich zählte. Ich nahm das Manuskript an mich, aber was sollte ich weiter tun? Es in der Form weiterzugeben, in der Lipkin es mir gegeben hatte, war schwierig – es war zu dick –, nicht jeder Journalist oder Diplomat würde sich bereitfinden, das umfangreiche Konvolut in den Westen mitzunehmen. Auch hatte ich Angst um dieses letzte Exemplar. Ginge es jetzt verloren, dann wohl für immer. Einfacher wäre es, einen Mikrofilm davon herzustellen und diesen zu übergeben, obwohl das Abfotografieren keine leichte Sache wäre, denn das Manuskript war die achte oder neunte Kopie auf dünnem Durchschlagpapier. Es musste außerdem rasch und gut gemacht werden, doch wer kam dafür in Frage? Ich lud jemanden ein, der ebenfalls Dissident war, in der Hoffnung, dass er ein zuverlässiger Mensch sei. Da hatte ich mich gründlich getäuscht. Er kam, machte ein paar Aufnahmen und rannte weg, weil er angeblich Wichtigeres zu tun hatte. Am nächsten Tag machte er wieder ein paar Aufnahmen und sagte, er müsse dringend die Stadt verlassen, komme aber in der nächsten Woche wieder und dann … Ich war entsetzt, denn es war mir klar, wenn der Geheimdienst etwas von dem Manuskript wittern würde, käme er sofort, um es zu beschlagnahmen, und dann trüge ich die Schuld für sein endgültiges Verschwinden. Ich musste mich beeilen und machte mich daran, den Text selbst, mit meiner sowjetischen Kamera, Marke »Zenit«, zu fotografieren, wohl wissend, dass die Qualität des Films nicht gut werden konnte. Ich brachte ihn auf den Weg in den Westen, beschloss jedoch, sicherheitshalber noch eine zweite Kopie machen zu lassen. Wer käme dafür in Frage, und wo sollte es geschehen? Eine geeignete Person wollte mir nicht einfallen, die Frage nach dem Wo war hingegen leichter zu beantworten. Ich entschied, dass es unter den Dissidentenwohnungen keine sicherere gäbe als die von Andrej Sacharow, der Mitglied der Akademie der Wissenschaften war. Sacharow war zwar auch schon bei der Staatsmacht in Ungnade gefallen, doch sein weltberühmter Name hielt die Geheimdienstler damals noch ab, in seine Wohnung einzudringen. Ich brachte das Manuskript fort, holte es wenige Tage danach wieder ab und gab es Lipkin zurück. Nach dieser Aktion gelangten zwei Filme in den Westen, der von mir aufgenommene und der von Sacharow gemachte. Ich wartete auf das Ergebnis. Bald darauf erschienen in der fünften Ausgabe der Pariser Exilzeitschrift »Kontinent« einzelne, schlecht ausgewählte Abschnitte aus dem Roman. Das war alles. Ich verstand nicht, was los war. Dann bekam ich auf geheimen Wegen die Information, dass Wladimir Maximow, der Chefredakteur von »Kontinent«, die Bedeutung des Romans nicht erkannt, sich auf den Abdruck einiger, nicht gerade der besten Ausschnitte beschränkt und das ganze Buch dem amerikanischen Verleger Carl Proffer angeboten habe. Der hatte auch kein Interesse an dem Manuskript. Davon wusste ich
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