Leben und Schicksal
das sowjetische Leben ganz ohne Andeutungen, einfach offen und wahrheitsgemäß dar, dann hatte es praktisch keinerlei Chancen, in der Sowjetunion veröffentlicht zu werden, und sein Autor bekam große Schwierigkeiten. Leser, die eine Vorstellung von der sowjetischen Literaturgeschichte haben, möchte ich daran erinnern, welchen Repressionen Boris Pasternak ausgesetzt war, nachdem sein Roman Doktor Schiwago im Ausland erschienen war. Die Moskauer Zeitungen überschütteten ihn mit Beschuldigungen und Beleidigungen, nannten ihn einen Verräter und beschimpften ihn als Schwein und Laus. Seine Schriftstellerkollegen forderten auf einer Sonderversammlung Pasternaks Verbannung ins Ausland unter Aberkennung seiner sowjetischen Staatsbürgerschaft.
Dieser Skandal fand 1958 statt; zwei Jahre später brachte Wassili Grossman, ein bekannter sowjetischer Autor, das Manuskript seines Romans »Leben und Schicksal« in die Redaktion der Zeitschrift »Snamja«, etwa tausend getippte Seiten. Wadim Koschewnikow, der Chefredakteur von »Snamja«, las den Roman durch und wusste, dass er nicht gedruckt werden durfte. Es wurden darin praktisch alle Seiten des sowjetischen Lebens dargestellt: das Leben in der Armee, im Krieg, im Hinterland, in Freiheit und in den deutschen und sowjetischen Lagern. Das Lagerthema war damals noch, zwei Jahre vor Erscheinen von Alexander Solschenizyns »Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch«, vollkommen tabu. Die Veröffentlichung von Grossmans Roman hätte unweigerlich einen Riesenskandal nach sich gezogen, dessen Opfer nicht nur der Autor selbst geworden wäre, sondern auch die Redaktion der Zeitschrift. Würde man den Roman aber nicht veröffentlichen, dann gelangte er ins Ausland, und die Geschichte mit »Doktor Schiwago« würde sich wiederholen. Zu Tode erschrocken, brachte Koschewnikow Grossmans Roman sofort ins Zentralkomitee der KPdSU, vielleicht sogar auch zum KGB, das spielt in diesem Fall keine Rolle. Von Bedeutung ist jedoch, dass das Manuskript dort, wohin Koschewnikow es gebracht hatte, gelesen und sofort richtig eingeschätzt wurde. Sogleich wurde alles getan, damit Grossman nicht dasselbe Schicksal widerfuhr wie Pasternak. KGB-Leute erschienen bei ihm, konfiszierten die Reinschrift des Manuskripts, die Entwürfe und Notizen, einfach alles, was auch nur den geringsten Bezug zu dem Roman hatte. Ein weiteres Exemplar wurde aus dem Safe des Chefredakteurs der Zeitschrift »Nowy mir«, Alexander Twardowski, beschlagnahmt, dem Grossman den Roman ebenfalls vorgelegt hatte. Bei den Stenotypistinnen, die den Roman abgetippt hatten, wurden nicht nur sämtliche Exemplare konfisziert, sondern auch das Durchschlagpapier, das zum Tippen verwendet worden war, und sogar die Farbbänder wurden aus den Schreibmaschinen entfernt. Alles wurde in Säcke gesteckt, plombiert und verschwand vermeintlich für immer.
Dieser Fall war sogar in der Geschichte der leidgeprüften sowjetischen Literatur einzigartig. Bis dahin war es natürlich schon vorgekommen, dass ein Autor verhaftet und alle seine Unterlagen wahllos oder gezielt eingezogen worden waren, doch hier wurde nicht der Autor verhaftet, sondern der Roman selbst. Er wurde nicht weggenommen, nicht beschlagnahmt, nicht konfisziert, sondern verhaftet wie ein lebendiger Mensch.
Das hatte es noch nie gegeben. Zum Vergleich möchte ich sagen, dass Boris Pasternak niemandem gegenüber die Existenz seines Romans verheimlicht hatte. Er gab ihn Freunden und potenziellen Redakteuren zu lesen, verschickte ihn per Post – auf die Idee, ihn zu verhaften, wäre damals niemand gekommen. Der Skandal entlud sich erst, nachdem »Doktor Schiwago« im Ausland erschienen war. Grossmans Roman stand das gleiche Schicksal und möglicherweise der gleiche Ruhm bevor, doch die Staatsmacht schob diesmal einem vergleichbaren Lauf der Dinge einen Riegel vor: Man verhaftete den Roman, ließ ihn verschwinden und tat so, als sei nichts geschehen. Pasternak hatte unter dem Skandal um »Doktor Schiwago« sehr gelitten und sich mit einem in die Falle gehetzten Tier verglichen (»Ich bin verloren, wie ein wildes Tier im Pferch«, begann er eines seiner Gedichte), doch Grossman erschien Pasternaks Schicksal wahrscheinlich beneidenswert. Ja, Pasternak wurde persönlich drangsaliert, doch sein Buch wurde noch zu seinen Lebzeiten gedruckt, in viele Sprachen übersetzt und brachte ihm Weltruhm und den Nobelpreis ein, Grossmans Tragödie blieb hingegen privat und wurde von der Öffentlichkeit
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