Leben und Schicksal
nichts und wartete zwei Jahre auf das Erscheinen des Romans – vergeblich. Damals, 1977, bat ich Lipkin, mir das Manuskript noch einmal zu geben, fand einen zuverlässigen Berufsfotografen, und der fotografierte den Text in bester Qualität mit einer trickreichen selbstgebauten Vorrichtung. Anschließend lud ich eine gute Bekannte, die österreichische Slawistin Rosemarie Ziegler, ein, an deren Zuverlässigkeit ich keinen Zweifel hatte. Ich erklärte ihr, worum es ging, nämlich um einen großartigen Roman, den man nicht nur in den Westen schmuggeln, sondern für den man auch einen Verlag finden müsste. Diesmal brachte der österreichische Kulturattaché Johann Marte das Manuskript in den Westen. Er übergab es den russischen Emigranten Efim Etkind und Simon Markisch, die selbst Literaten waren. Sie entzifferten den Film und gaben das Buch im Schweizer Exilverlag L’Age d’Homme heraus. So erstand dieses Buch wie der Phönix aus der Asche.
Wie der Leser bemerkt haben wird, ist dieser Roman in der realistischen Tradition geschrieben. Es ist ein riesiges Werk, bei dessen Lektüre man unwillkürlich an »Krieg und Frieden« denkt. Und in der Tat, wie Tolstois großer Roman ist »Leben und Schicksal« von Grossman ein Epos. Wie bei Tolstoi sind die Kriegs- und Friedensszenen gleich wichtig. Die Handlung spielt in Moskau, in der tiefen Provinz, in der Etappe, an der Front, im Hauptquartier Stalins und im Führerhauptquartier Hitlers. Eine Romanheldin kommt in der Gaskammer eines deutschen Konzentrationslagers um, ein anderer Protagonist wird in der Lubjanka mit unmenschlichen Foltermethoden verhört. Wie ich oben schon sagte, sind fast alle Seiten des sowjetischen Lebens in diesem Roman beschrieben. Er zeigt die unterschiedlichsten Figuren – Wissenschaftler, Generäle, Soldaten, Männer, Frauen und Kinder. Liebe, Heldentaten, Verrat, alle menschlichen Qualitäten, Leidenschaften und Laster werden im Roman mit starker Bildkraft geschildert.
Der Autor dringt verblüffend tief in die Charaktere seiner Helden ein. Die Menschen werden in ihrer ganzen Nichtswürdigkeit und Größe gezeigt. Ein Mann verdächtigt seine Frau, ihn beim NKWD denunziert zu haben. Seine Frau hegt gegen ihren Geliebten den gleichen Verdacht. Der Kommandeur eines Panzerkorps verzögert die Ausführung von Stalins Befehl, um menschliche Verluste zu vermeiden, und riskiert dafür Kopf und Kragen. Eine andere Figur zeigt sich ungewöhnlich stark im Angesicht des Todes und begeht eine Schandtat aus Angst, kleine Privilegien zu verlieren.
Die sowjetische Literatur wurde (wie das ganze Land) von inkompetenten Leuten beherrscht, denen manchmal sogar die elementaren Bildungsgrundlagen fehlten. Doch sie besaßen ein animalisches Gespür dafür, das Lebendige vom Toten, das Wahre vom Unwahren zu unterscheiden. Und es ist überhaupt nicht verwunderlich, dass ihnen nach der Lektüre dieses Romans klar war, dass man ihn nicht frisieren und durch einzelne Streichungen, Hinzufügungen oder ein angeklebtes Happy End korrigieren könnte. Sie schätzten das Buch richtig ein und fanden keinen besseren Ausweg aus der Situation, als es zu schnappen und zu verstecken.
Um das beschlagnahmte Manuskript zurückzubekommen, klopfte Grossman an viele Türen, putzte in verschiedenen Instanzen die Klinken und wurde schließlich vom damaligen Chefideologen der Partei, dem zweiten Mann im Staat, Michail Suslow, empfangen, der bei den Schriftstellern »unser sowjetischer Goebbels« hieß. Suslow sagte Grossman, sein ideologisch schädlicher Roman werde frühestens in zweihundert Jahren gedruckt werden.
Suslow verschätzte sich um genau 180 Jahre, und ich freue mich, dass ich dazu beigetragen habe, diesen selbstsicheren Satrapen wenigstens von einer Illusion zu befreien. »Manuskripte brennen nicht«, hat ein Romanheld von Michail Bulgakow gesagt, und diese Behauptung kommt mir jedes Mal wieder in den Sinn, wenn ich an die Rettung von Wassili Grossmans Manuskript denke.
Ich muss allerdings sagen, dass dieser Rettungsakt unter Begleitumständen ablief, die heute komisch wirken.
Semjon Lipkin ließ mir das Manuskript beim zweiten Mal durch seine Frau Inna Lisnjanskaja zukommen. Ich wohnte im fünften Stock eines alten Hauses. Der Lift war auch alt und musste von Hand geöffnet werden. Inna aber wohnte in einem Neubau, wo sich die Aufzugtüren automatisch öffneten. An den neuen Lift gewöhnt, fuhr sie zu mir in den fünften Stock hinauf. Der Aufzug hielt an, die Türen
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