Leben und Schicksal
geschrieben wurde? Dass man ihm mit dem Gefängnis droht, wenn er über seinen Kummer sprechen sollte?
Ich bin überzeugt, dass sogar die strengsten und unversöhnlichsten Staatsanwälte in vieler Hinsicht ihren Standpunkt meinem Buch gegenüber ändern und einräumen müssen, dass eine Reihe der Hauptanklagepunkte, die sie gegen mein Manuskript ein bis anderthalb Jahre vor dem 22. Parteitag vorgebracht haben, haltlos sind.
Ich bitte Sie: Geben Sie meinem Buch die Freiheit wieder! Ich bitte Sie darum, dass die Redakteure über mein Buch mit mir reden und diskutieren, nicht aber die Mitarbeiter des Staatssicherheitskomitees.
Meine heutige Lage, meine physische Freiheit, hat keinen Sinn, wenn sich das Buch, für das ich mein Leben gegeben habe, im Gefängnis befindet, denn ich habe es geschrieben, ich habe mich nicht von ihm losgesagt und sage mich nicht von ihm los. Zwölf Jahre sind vergangen, seit ich die Arbeit an diesem Buch begonnen habe. Ich bin immer noch der Meinung, dass ich die Wahrheit geschrieben habe, dass ich es aus Liebe und Mitleid für die Menschen und im Glauben an sie geschrieben habe. Ich bitte um Freiheit für mein Buch.
Hochachtungsvoll
Ihr Wassili Grossman
Moskau, Begowaja-Straße, Block 31, Whg.1
Tel. D-3-00-80, Nebenstelle 16
Als Reaktion auf diesen Brief wurde Wassili Grossman im Juli 1962 zu einer Unterredung mit dem Kulturbeauftragten des ZK, Michail Suslow, geladen. Auch dieses Gespräch verlief erfolglos.
LEBEN UND SCHICKSAL DES WASSILI GROSSMAN
UND SEINES ROMANS
Es muss Ende 1974 gewesen sein, da trat im Hof unseres Schriftstellerhauses (Moskau, Tschernjachowskowostraße 4) mein Nachbar auf mich zu, der Dichter und Übersetzer Semjon Israilewitsch Lipkin. Er druckste herum und fragte dann kryptisch: »Hätten Sie vielleicht die Möglichkeit, ein Manuskript in den Westen zu schleusen, es ist nicht von mir, aber sehr interessant …« Ich unterbrach ihn: »Grossman?« Er zögerte einen Augenblick und bejahte.
Hier muss ich meine Geschichte sogleich unterbrechen, weil sie Kommentare und Erklärungen erfordert. Erläutert werden muss, um welches Manuskript es sich handelte, warum Lipkin es aufbewahrte, wieso er es in den Westen schleusen und nicht in der russischen Heimat drucken lassen wollte und weshalb er sich mit seiner Bitte ausgerechnet an mich wandte. Manche Leser sollte ich auch noch daran erinnern, dass das geschilderte Ereignis in der Sowjetunion stattfand, wo damals ein totalitäres Regime herrschte, das alle Kunstgattungen, vor allem aber die Literatur, einer grausam harten ideologischen Kontrolle unterzog. Das Regime forderte von allen sowjetischen Schriftstellern, dass sie sich streng an die Methode des sogenannten sozialistischen Realismus hielten und das Leben nicht so darstellten, wie es in Wirklichkeit war, sondern so, wie es die kommunistische Führung gerne gesehen hätte. Viele Schriftsteller empfanden diese Forderung als Zumutung, sie versuchten, sie irgendwie zu umgehen oder dem Leser ihre Gedanken in Andeutungen zu vermitteln, das heißt, sie schrieben das eine und meinten etwas anderes. Diese Methode, die Gedanken des Autors weiterzugeben, hatte indes ein großes Manko. Wenn die Andeutungen zu sehr verschleiert waren, konnte sie der Leser nicht verstehen. Waren sie zu offensichtlich, verstanden sie nicht nur die einfachen Leser, sondern auch die kommunistischen Machthaber. Dann wurde der Autor vor irgendwelche ideologischen Instanzen geladen, wo man von ihm verlangte, dass er die Andeutungen beseitigen und das Buch verbessern, also de facto verschlechtern solle. Andeutungen sahen die sowjetischen Machthaber in allem, und deshalb waren viele Themen ganz verboten. Zum Beispiel durfte man in der Zeit, als dieser Roman geschrieben wurde, nicht nur keine sowjetischen Konzentrationslager beschreiben, sondern auch keine deutschen. Der Leser könnte bei der Beschreibung der deutschen Lager denken, bei uns gebe es ebensolche Lager, und der Autor, der die deutschen Lager beschreibe, meinte eigentlich unsere eigenen. Der Regisseur Michail Romm drehte den Film »Der gewöhnliche Faschismus« über die Kunst im Dritten Reich. Er wurde ins Zentralkomitee der KPdSU vorgeladen und gefragt: »Warum mögen Sie uns nicht?« In jedem Text suchten die sowjetischen Zensoren wachsam nach Anspielungen oder einem sogenannten Subtext. Sie hatten sogar den Begriff »unkontrollierbarer Subtext« erfunden, entdeckten also Andeutungen dort, wo es gar keine gab. Stellte aber ein Buch
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