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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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russischen Menschen zur Wahrheit, zur Freiheit und zum Guten beschrieben. Doch er war keineswegs ein Illustrator, der die Ideen der Führer der russischen Demokratie veranschaulichte, sondern er stellte das Leben der russischen Gesellschaft auf seine, Turgenjew’sche Weise dar. Und ebenso haben Dostojewski, Tolstoi und Tschechow das Gute und Böse des russischen Lebens erlebt und die Freude, den Kummer, seine Schönheit und seine hässlichen Seiten geschildert. Weder Tolstoi noch Tschechow haben die Standpunkte der Menschen illustriert, die an der Spitze der revolutionären Bewegung zur Demokratisierung Russlands standen; sie polierten ihren eigenen Spiegel des russischen Lebens, und dieser Spiegel unterschied sich von dem der politischen Führer der russischen Revolution. Aber weder Herzen noch Tschernyschewski, noch Plechanow, noch Lenin zogen deshalb gegen die russischen Schriftsteller zu Felde; sie betrachteten sie als ihre Verbündeten, nicht als Feinde.
    Ich weiß, dass mein Buch nicht vollkommen ist und sich nicht mit den Werken der großen Schriftsteller der Vergangenheit messen lassen kann. Doch hier geht es nicht um meine mangelnde Begabung. Hier geht es um das Recht, die Wahrheit zu schreiben, eine Wahrheit, die im Laufe eines langen Lebens leidvoll erfahren wurde und über viele Jahre des Nachdenkens herangereift ist.
    Warum also wurde mein Buch verboten, das vielleicht in einem gewissen Maße die drängenden Fragen der sowjetischen Menschen beantwortet, das keine Lüge und Verleumdung enthält, sondern nur Wahrheit, Schmerz und Menschenliebe? Warum wurde es mir mit administrativer Gewalt genommen und wie ein Verbrecher, ein Mörder weggesperrt?
    Über ein Jahr schon weiß ich nicht, ob mein Buch unbeschädigt ist, ob es aufbewahrt wird oder vielleicht schon vernichtet, verbrannt worden ist.
    Wenn mein Buch eine Lüge ist, dann sage man es den Menschen, die es lesen wollen. Wenn mein Buch eine Verleumdung ist, dann sage man es. Mögen die sowjetischen Menschen, die sowjetischen Leser, für die ich seit dreißig Jahren schreibe, selbst darüber urteilen, was in meinem Buch Wahrheit und was Lüge ist.
    Doch der Leser hat gar keine Möglichkeit, mich und mein Werk vor Gericht zu stellen, das Gericht des Herzens, des Gewissens, strenger als jedes andere Gericht. Vor dieses Gericht wollte und will ich gestellt werden.
    Damit jedoch nicht genug; als mein Buch von der Redaktion der Zeitschrift »Snamja« abgelehnt wurde, empfahl man mir, die Fragen der Leser dahingehend zu beantworten, dass ich die Arbeit an dem Manuskript noch nicht abgeschlossen hätte und sie mich noch über eine lange Zeit hinweg beschäftigen würde. Mit anderen Worten, ich wurde aufgefordert, die Unwahrheit zu sagen.
    Und noch nicht genug damit; als mein Manuskript beschlagnahmt wurde, sollte ich unterzeichnen, dass ich für die Verbreitung dieser Tatsache strafrechtlich zur Verantwortung gezogen würde.
    Die Methoden, mit denen man geheim halten will, wie mit meinem Buch verfahren wurde, dienen nicht der Bekämpfung von Unwahrheit und Verleumdung. So bekämpft man die Lüge nicht. So bekämpft man die Wahrheit.
    Was geschieht hier? Wie soll ich das im Lichte der Ideen des 22. Parteitages verstehen?
    Lieber Nikita Sergejewitsch! Bei uns wird derzeit häufig geschrieben und gesagt, dass wir zu den Normen der Demokratie Lenins zurückkehrten. In der harten Zeit des Bürgerkriegs, der Besatzung, des wirtschaftlichen Verfalls und des Hungers stellte Lenin Normen der Demokratie auf, die während der gesamten Stalinzeit ins Reich der Träume gehörten.
    Auf dem 22. Parteitag verurteilten Sie vorbehaltlos die blutigen Gesetzesbrüche und Grausamkeiten Stalins. Dieser Beweis Ihrer Kraft und Ihres Mutes gaben mir allen Grund, zu glauben, dass die Normen unserer Demokratie ebenso gedeihen werden wie die Produktion der Stahl-, Kohle- und Stromerzeugung seit der Zeit des den Bürgerkrieg begleitenden Wirtschaftsverfalls. Denn im Wachstum der Demokratie und der Freiheit besteht doch das Wesen der neuen menschlichen Gesellschaft noch weit mehr als im Wachstum der Produktion und des Konsums. Diese neue Gesellschaft erscheint mir außerhalb eines stetigen Wachstums der Freiheits- und Demokratienormen undenkbar.
    Wie ist es zu verstehen, dass in unserer Zeit bei einem Schriftsteller eine Haussuchung durchgeführt und ihm ein Buch weggenommen wird, das zwar unvollkommen sein mag, das aber mit seinem Herzblut im Namen der Wahrheit und der Menschenliebe

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