Leben und Schicksal
(LS, 26).
Individuen können auf eine weitere Art ihre Fähigkeit zu unabhängigem moralischen Handeln bewahren, und zwar durch das Gespräch mit jenen, die der Staatsmacht zum Opfer gefallen sind. Das moralische Opfer der Toten hat die Kraft, die Lebenden in ihrem Menschsein zu bestärken. Dies kann allerdings nur dann geschehen, wenn die Kriegstoten ins Leben zurückgerufen werden, und zwar von Schriftstellern, die sie mit einem Gesicht und individuellen moralischen Zügen versehen. Grossmans Versuch, das menschliche Leiden im Krieg zu individualisieren, ist der rote Faden, der sich durch sein Schreiben seit den Kriegsjahren zieht. Die folgende Passage in »Leben und Schicksal« verdeutlicht, wie der Autor Leben und Tod miteinander in Dialog setzt: Vera, die Frau des Jagdfliegers Viktorow, ist aus Stalingrad auf einen Lastkahn am gegenüberliegenden Wolgaufer evakuiert worden. Dort erfährt sie vom sowjetischen Gegenangriff gegen die deutschen Truppen. Vera hält ihren Säugling auf dem Schoß umschlungen und bricht in Tränen aus, während sie der Radioansage zuhört: »Ein unsichtbares beglückendes Band spannte sich zwischen ihnen und jenen Männern, die jetzt, das Gesicht mit der Hand vor dem Wind schützend, durch den Schnee marschierten, und mit jenen, die im Schnee in ihrem Blut lagen und sich mit dunklem Blick vom Leben verabschiedet hatten.« Veras Gedanken wenden sich ihrem Mann, dem Piloten, zu: Unter Tränen malte sie sich freudig aus, wie ihr Mann zu ihr hierherkommen würde, wie die Frauen, Greise und Arbeiter ihm Platz machen und zu ihm sagen würden: »Junge!« (LS 740)
Abrupt, ganz im Stil Tolstois, schneidet Grossman auf der nächsten Seite zu einer neuen Szene: der Diensthabende im Stab erstattet dem Chef einer Luftarmee Meldung über den Einsatz der Jagdflieger am ersten Tag der Offensive. Am Ende seines Berichts vermerkt der Offizier, dass das Flugzeug von Oberleutnant Viktorow in Brand geschossen worden sei und es nicht mehr zurückgeschafft habe. Der Pilot sei auf einer Höhe im Niemandsland gelandet. Versuche von Rotarmisten, ihn zu retten, seien von den Deutschen abgewehrt worden. Der Befehlshaber hört zerstreut zu, während er sich mit dem Bleistift an der Nase kratzt. Das kurze Kapitel, weniger als eine Seite lang, endet so: »Die ganze Nacht lag der tote Flieger auf dem schneebedeckten Hügel. Es herrschte klirrender Frost, und die Sterne leuchteten hell und klar. In der Morgendämmerung färbte sich der Hügel rosa, und der Flieger lag auf einem Rosenhügel. Dann brach ein Schneesturm los und begrub ihn unter sich.« (LS 741) In diesen Zeilen schien Grossman den Appell Ehrenburg umzusetzen, dass ein sowjetischer Tolstoi die Seele eines jungen Sowjetoffiziers zeige, wie er sterbend unter dem winterlichen Sternenhimmel Ostpreußens liegt.
Grossman beschäftigte wie Tolstoi die Frage des Todes, doch befolgte er damit eine andere Absicht als sein Vorgänger. Tolstoi ging es um den Tod als ein plötzliches Ende der menschlichen Existenz. Warum leben wir, wenn wir wissen, dass wir ohnehin sterben müssen? Eigentlich ging es Tolstoi also um den Sinn des Lebens. Bezeichnenderweise sind Tolstois Soldaten in »Krieg und Frieden« selbst unter den schwersten Schlachtbedingungen munter und kindlich fröhlich. Grossman hingegen suchte den Sinn des Todes zu erfassen. Er lotete die Gefühlszustände individueller Rotarmisten aus, von denen jeder bisweilen mit seinen Gedanken allein blieb und keiner gegen Angst gefeit war, im Gegensatz zu Tolstoi, der den Mythos des furchtlosen russischen Soldaten propagierte. Für Grossman war es wichtig, die Zweifel und Ängste der todgeweihten Soldaten zu beleuchten; damit unterstrich er nur den moralischen Wert ihres Tods.
Grossman war davon überzeugt, dass die gefallenen Soldaten für einen moralischen Zweck starben. Sie opferten sich, damit andere leben konnten. Sie starben für das sowjetische Volk und eine bessere Welt. In späteren Jahren kritisierte Grossman die monumentale Kriegserinnerung seitens des sowjetischen Staats, und er predigte stattdessen eine kleine und unbedachte »schlichte menschliche Güte«, doch gab er nie seinen Glauben an das Kriegsheldentum des »Sowjetvolks« auf. Diese widersprüchlichen Überzeugungen behielt Grossman bis zu seinem Lebensende bei, genauso wie er seine jüdische Identität zu artikulieren begann, ohne sich dabei von seiner anderen Selbstwahrnehmung als sowjetischer oder russischer Schriftsteller zu lösen. Aus
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