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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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Wiedererstarken des totalitären Staats wird wiederum durch das Schicksal Krymows und Strums erzählt. Nach einer Denunziation wird Kommissar Krymow verhaftet und nach Moskau gebracht, wo ihm der NKWD ein Geständnis abpressen will, ein deutscher Spion zu sein. Krymow gesteht nicht. Doch spielt sich sein eigentlicher Prozess nicht in der Folterkummer ab, sondern in seinem eigenen Kopf. In seiner Gefängniszelle grübelt Krymow über die Anklagepunkte, von denen er weiß, wie absurd sie sind. Doch kann er sich nicht gegen sie auflehnen, denn sie sind von der Partei verfasst worden, der er seine Identität als Kommunist verdankt. Der totalitäre Staat, so Grossman, funktioniert nicht nur mit nackter Gewalt, er fesselt auch durch seine verführerischen Reize. Krymow ist gebannt von der »Kraft der Revolution«. Sein innerer Kampf endet mit dem Sieg des abgehärteten, selbstlosen Revolutionärs über dem mit persönlicher Urteilskraft ausgestatteten Menschen. Krymow selbst unterdrückt die Freiheit und Individualität, die er kurz zuvor in Stalingrad entdeckt hatte. Der Roman endet vor der Urteilsverkündung, doch lässt er keinen Zweifel daran, dass Krymow eine lange Strafzeit im Gulag bevorsteht.
    Auf noch perfidere Art bemächtigt sich die Staatsmacht Viktor Strums. Nach der Kriegswende bei Stalingrad kehrt das Physik-Institut von Kasan nach Moskau zurück. Am alten Ort macht sich das von Misstrauen und Überwachung genährte Klima aus der Vorkriegszeit wieder breit und vergiftet die Arbeitsatmosphäre unter den Wissenschaftlern. Obendrein wird Strum zur Zielscheibe einer antisemitischen Kampagne. Seine bahnbrechenden Arbeiten werden als unrussisch und schädlich verschrien. Nur eine schriftliche Beichte kann seine Stellung am Institut retten. Strum sitzt allein zu Hause und überlegt, was er tun soll. Er spürt, wie eine unsichtbare Macht ihn niederdrückt. (LS 814-815)
    Strum schreibt die Beichte nieder, beschließt aber in einer plötzlichen Eingebung, sie nicht abzuschicken. Er kompromittiert sich auf andere Weise. Nach einer überraschenden Intervention Stalins wird der Physiker in vollen Ehren rehabiliert. In seiner Freude verkennt er jedoch, dass seine Kernforschungen dem Staat dienen und für Ziele genutzt werden, die seinen eigenen Prinzipien von Freiheit und Menschlichkeit widersprechen.
    Der Mensch hat kaum Chancen, sich gegen die konzentrierte Staatsmacht zu behaupten. Nicht nur ist er ständig von Vernichtung bedroht; in entscheidenden Momenten wird er selbst zum willigen Handlanger des Staates. Gesteuert von der verführerischen Kraft staatlicher Ideologie oder von der Angst vor Vereinsamung, fügt sich der Einzelne in die Reihen des Volkskörpers ein. Was allein bleibt, sind kleine Aktionsradien, fast unscheinbare Regungen, die direkt dem Herzen entspringen und die Grossman als »sinnlose Güte« bezeichnet. Die Geschichte der Menschheit, erklärt der Mönch Ikonnikow, mit dessen Position sich Grossmans Erzähler identifiziert, ist nicht der Kampf des Guten zur Überwindung des Bösen. Es ist der Versuch eines großen bösen Prinzips, den letzten Kern von menschlicher Güte zu zerstören.
    Die Zukunft der Menschheit hängt von diesen kleinen individuellen Handlungen ab. Allein sie können sich der Staatsmaschine entgegenstellen, die sich aus den Kräften von moderner Technik und totalitärer Massenideologien speist. Moralischen Wert hat keine dieser Ideologien mit ihren Aufrufen, sich um »eine Rasse, einen Gott, eine Partei oder einen Staat« zu scharen. Was sie allein bewirken, ist die weitere Förderung der Staatsmacht. Dies liest sich als ein interessanter Kommentar zu Tolstoi. Der vorseherische Determinismus, an den Tolstoi glaubte, erweist sich als ein Mittel zur Beförderung eines unmenschlichen Prinzips. Die Menschen können nur überleben, wenn sie deterministischen Philosophien entkommen, welche im 20. Jahrhundert zu Waffen des totalitären Staates geworden sind. Wie bewusst Grossman diesen Dialog mit Tolstoi führte, geht daraus hervor, dass er Ikonnikow als einen ehemaligen Tolstoi-Anhänger beschreibt, der den Glauben an weltanschauliche Überzeugungen jeder Art, einschließlich der Philosophie Tolstois, aufgegeben hat. Ikonnikow bezeugt, am 15. September 1941 – dem Todestag von Grossmans Mutter – der Hinrichtung von zwanzigtausend Juden beigewohnt zu haben. »An dem Tag habe ich begriffen, dass Gott so etwas nicht hätte zulassen können, und mir wurde klar, dass es ihn nicht gibt.«

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