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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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Tula, südwestlich von Moskau. Am Straßenrand sah Grossman ein Hinweisschild nach Jasnaja Poljana, dem Landgut des Grafen Tolstoi. Er überredete die übrigen Insassen in seinem Wagen, dort vorbeizufahren. Das Auto, so notierte er in seinem Kriegstagebuch, »verlässt die verstopfte Chaussee«. In Jasnaja Poljana schienen für Grossman die Vergangenheit und die Gegenwart eins zu werden. Er wurde Zeuge der im Haus herrschenden »Hektik vor der Flucht« und sah zu, wie die beweglichen Güter des Tolstoimuseums kistenweise auf Laster aufgeladen wurden. »Schlagartig« fühlte Grossman sich an die Kahlen Berge erinnert, das Familiengut der Bolkonskijs in »Krieg und Frieden«, das von seinen Bewohnern vor der vorrückenden Grande Armée verlassen werdenmusste. 8
    Grossman selbst entkam dem Zangengriff der vorstoßenden deutschen Panzertruppen nur mit Glück. Einer der nächsten Besucher von Tolstois Landgut war General Guderian, der Jasnaja Poljana als sein Hauptquartier für den Angriff auf Moskau wählte.
    Für Grossman persönlich begann der Krieg mit einem schweren Schlag. In der ukrainischen Stadt Berditschew geboren, war er in einer Familie von säkularen Juden aufgewachsen, die auf Bildung und Wissenschaft eingeschworen waren, ihre sowjetische und auch russische Identität betonten und sich von den »rückständigen« Traditionen ihrer Vorfahren distanzierten. »In der Stadt Berditschew«, eine von Grossmans frühen Kurzgeschichten, beleuchtet mit viel Ironie das Leben im jüdischen Schtetl. Die Deutschen eroberten Berditschew am 7. Juli 1941, noch bevor die örtlichen Behörden Vorkehrungen für die Evakuierung der zumeist jüdischen Einwohner getroffen hatten. Grossmans Mutter lebte in Berditschew. Das letzte Zeichen, das er von ihr erhielt, war ein auf den 1. Juli datiertes Telegramm. Mehr als zwei Jahre lang lebte der Schriftsteller in Ungewissheit über das Schicksal seiner Mutter. Seine Befürchtung, dass ihr Schreckliches widerfahren war, bestätigte sich im Januar 1944, als Grossman seine soeben von der Roten Armee befreite Heimatstadt besuchte. Anhand von Gesprächen mit überlebenden Einwohnern rekonstruierte er in horrendem Detail, wie weit mehr als zehntausend Juden aus Berditschew an einem Septembertag im Jahre 1941 umgebracht wurden. Diese Interviews machte er nach dem Krieg zu einem Kapitel des »Schwarzbuchs der Russischen Juden«, Grossmans Versuch, den sowjetischen Holocaust zu dokumentieren.
    Als Grossman von der Einnahme Berditschews erfuhr, meldete er sich zum Einsatz in der Roten Armee. Grossman, ein stämmiger und stark kurzsichtiger Mann, der eine dicke Brille trug und vor dem Krieg noch nie eine Waffe getragen hatte, bestand darauf, dass sein Platz an der Front sei. Er wurde als Korrespondent der Tageszeitung »Roter Stern« der Roten Armee eingeteilt. Grossman arbeitete während fast der gesamten Kriegsdauer als Berichterstatter von der Front. Sein Schlüsselerlebnis kam im August 1942, als er nach Stalingrad entsandt wurde, um die Schlacht zu dokumentieren, die nach Ansicht vieler das Schicksal der Sowjetunion entscheiden würde. Auf dem Weg von Moskau nach Stalingrad machte Grossman einmal mehr Halt in JasnajaPoljana. 9
    Grossman berichtete bis Januar 1943 aus Stalingrad, er war der am längsten dienende Moskauer Korrespondent in der Frontstadt.
    Seine Berichte aus Stalingrad machten ihn über Nacht berühmt. Sie schilderten das Schlachtgeschehen aus der Sicht einfacher Soldaten, mit denen er lange Gespräche führte, bevor er sich hinsetzte und seine Berichte schrieb. Die Soldaten erkannten sich in seiner Darstellung wieder.
    Ein Veteran erinnert sich, dass seine bei Moskau stationierte Kompanie trotz der enormen Anspannung und Erschöpfung die Kämpfe bei Stalingrad in den Zeitungen aufmerksam verfolgte. Da nur wenige Exemplare des »Roten Sterns« zur Verfügung standen, wurden sie auszugsweise der versammelten Truppe vorgelesen. »Es wurde abgestimmt, welche Berichte wir hören wollen. Beinahe alle einigten sich auf WassiliGrossman.« 10
    Der »Rote Stern«, schrieb Chefredakteur Ortenberg rückblickend, schuldete seine Beliebtheit bei den Soldaten in großem Maße den lebhaften und realitätsnahen Reportagen Grossmans: »Selbst den Parteibonzen in Moskau war klar, wie sehr seine Prosa die Entschlossenheit der Rotarmisten stärkte, ganz zu schweigen vom Rest derBevölkerung.« 11
    Nach dem sowjetischen Sieg in Stalingrad begann Grossman an einem Romanwerk zu arbeiten, das auf

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