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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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seinen Zeitungsberichten fußte, diese jedoch in einen größeren Bedeutungszusammenhang überführte. Sein Vorhaben entsprach einem Trend unter sowjetischen Schriftstellern, sich von Chroniken des täglichen Kriegsgeschehens wegzubewegen und den siegreichen Kriegsverlauf in epischer Form zu schildern. Im Januar 1945 – das Kriegsende war in Sicht – machte Ilja Ehrenburg, einer der bekanntesten sowjetischen Kriegsschriftsteller, eine prophetische Bemerkung. »Künftige Historiker werden die Befreiung Polens und den Kampf um Ostpreußen untersuchen. Wenn unsere Kinder Glück haben, wird ein künftiger Tolstoi die Seele eines jungen Sowjetoffiziers zeigen, der zum jetzigen Zeitpunkt sterbend auf den winterlichen Sternenhimmelblickt.« 12
    Grossman setzte Ehrenburgs Appell fast wortgenau um. Er folgte dabei jedoch nicht den ideologischen und ästhetischen Vorgaben, die Ehrenburg im Sinn gehabt haben mag. Als »Ingenieure der Seele« hatten Schriftsteller der Stalinzeit die Aufgabe, exemplarische Helden zu zeichnen, deren unerschüttlichen Überzeugungen und übermenschliche Fähigkeiten den Leser zur Selbstaufopferung für das kommunistische System bewegen sollten. Grossman sollte in der Tat einen sterbenden Offizier unter winterlichem Sternenhimmel beschreiben, doch nahm sein Projekt Anstoß an wesentlichen Geboten des sozialistischen Realismus und orientierte sich vielmehr an der Tradition des vorrevolutionären kritischen Realismus, besonders an Tolstoi.
    Beinahe zwanzig Jahre lang, von 1943 bis 1960, arbeitete Grossman an einem Stalingradroman, der mit recht als »Krieg und Frieden« des 20. Jahrhunderts gelten kann. Er gliederte das Werk, das ursprünglich den Titel »Stalingrad« trug, in zwei Teile. Den ersten Teil stellte er 1948 fertig. Nach vielen zensierenden Eingriffen erschien er 1952 unter dem Titel »Für die gerechte Sache«. Einige der zensierten Abschnitte übertrug Grossman in einen zweiten Teil, den er als Folgeband konzipierte. Dieser 1960 fertiggestellte Band, »Leben und Schicksal«, stieß bei der Sowjetführung auf stärkste ideologische Vorbehalte. Die Veröffentlichung in der Sowjetunion wurde kategorisch ausgeschlossen. Grossmans Proteste fruchteten nicht; verbittert und krank starb er wenige Jahre später. Den abenteuerlichen Weg seines Manuskripts in den Westen, wo es 1980 erstmals veröffentlicht wurde, beschreibt Wladimir Woinowitsch in seinem beigefügten Nachwort.
    »Leben und Schicksal« wird seit seinem Erscheinen als eigenständiges Werk gelesen. Nicht zuletzt werten die Versuche des sowjetischen Regime, das Erscheinen dieses zweiten Bands zu verhindern, den Text in den Augen von vielen Lesern auf, wohingegen allein die Tatsache, dass der erste Teil zu Lebzeiten Stalins erscheinen konnte, ihndiskreditiert. 13
    Doch eröffnet sich eine gänzlich neue Lektüre, wenn man »Leben und Schicksal« als den zweiten Teil der von Grossman so intendierten Dilogie betrachtet. Der erste Band bricht zeitlich und örtlich dort ab, wo der Folgeband nach den ersten KZ-Szenen wieder einsetzt: in Stalingrad im September 1942. Manche Leser beschreiben Grossman als einen außergewöhnlichen Denker und Philosophen, stufen seine literarischen Fähigkeiten jedoch geringer ein. Das mag aber auch daran liegen, dass fast alle Darsteller in »Leben und Schicksal« schon im ersten Band eingeführt werden. Wer ihn gelesen hat, begegnet denselben Figuren im Folgeband anders – als psychologisch komplexen Menschen von hohem Identifikationswert. So erschließt sich eine menschliche Seite von Grossmans literarischem Werk, die durch den Kalten Krieg gleichsam verschüttet wurde. Sicherlich stimmt es, dass der im Westen praktisch unbekannte erste Band von der stalinistischen Zensur gezeichnet ist, doch behält er große Ausdruckskraft und ist ein zentraler Teil von Grossmans Vorhaben, ein Tolstoisches Epos zu schreiben. Eine Edition, die beide Teile dieses Stalingradromans zusammenführt, ist inVorbereitung. 14
    Grossman maß seinen Roman an »Krieg und Frieden«; das machen nicht nur seine Wahl eines ähnlich gewichtigen Titels, der schiere Umfang des Werks und die komplexe Schar von Darstellern deutlich. Wie zuvor Tolstoi versuchte Grossman in epischer Form den Geist einer gesamten historischen Epoche zu bündeln. Von Tolstoi entlehnte er auch die Technik, die vielen individuellen Darsteller durch das Geflecht zweier verzweigter Familien – bei Tolstoi sind es die Rostows und die Bolkonskijs, bei Grossman die

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