Leben und Schicksal
Akteure thronenden philosophischen Betrachters ein, der aus der Vogelschau verfolgt, wie sie in den unheilvollen Sog des geschichtlichen Geschehens geraten.
Grossman teilte auch die von Tolstoi beschworene Verpflichtung zur Wahrheitssuche. Beide Schriftsteller sahen den Zweck der Literatur nicht in der Unterhaltung des Lesers, sondern in seiner Erziehung und Vervollkommnung. Eingedenk dieser Verantwortung hatte sich der realistische Schriftsteller mit den wichtigen sozialen und moralischen Themen seiner Zeit auseinanderzusetzen. Um vor seinen Lesern moralisch zu bestehen, musste er sein gesamtes persönliches Leben der Wahrheitssuche widmen, bis zu einem Grad, an dem die Positionen von Autor und Erzähler und die Bereiche von Leben und Kunst, sozialer Wirklichkeit und literarischer Repräsentation miteinander verschmolzen. In seinem Protestschreiben an Chruschtschow nach der Beschlagnahmung seines Roman-Manuskripts betonte Grossman diese gesellschaftlichen und moralischen Verpflichtungen des russischen Schriftstellers.
Und doch gingen Grossmans und Tolstois Überzeugungen in einem wichtigen Punkt auseinander. Tolstoi suchte die Hybris von selbsternannten weltgeschichtlichen Persönlichkeiten wie Napoleon zu offenbaren, indem er zeigte, wie sehr das Leben von zufälligen Ereignissen gesteuert war, die sich der menschlichen Kontrolle entzogen. Allein im Zusammenspiel aller menschlichen Handlungen eröffneten sich die Konturen eines geschichtlichen Prozesses, der jedoch so facettenreich war, dass selbst die genaueste wissenschaftliche Analyse ihm nicht vollends gerecht werden könnte. Dem Verständnis des Menschen weitgehend entzogen, folgte die Geschichte dennoch präzisen, vorbestimmten Bahnen. Der Gang der Weltgeschichte, so philosophiert Tolstois Erzähler während der Beschreibung der Schlacht von Austerlitz, spiegele sich auf dem Ziffernblatt einer weithin sichtbaren Turmuhr. Das gemessene Vorrücken der Zeiger verweise auf den Sieg der einen Nation und die Niederlage der anderen, den Triumph des einen Oberbefehlshabers und die Schmach des anderen. Doch die wirklichen Gründe für Sieg oder Niederlage entzögen sich dem Beobachter. Sie seien in den Bewegungen von zahllosen Rädchen und Rollen im Inneren der Uhr zu finden, deren Ineinandergreifen den Uhrenmechanismus antrieb, genau so wie die Handlungen der hunderttausenden Soldaten auf dem Schlachtfeld von Austerlitz den weltgeschichtlichen Prozess steuerten.
Als Zeuge eines Zeitalters von unvorstellbarer Gewalt und Zerstörung konnte Grossman den Vorsehungsglauben Tolstois nicht teilen. Pierre Besuchows freudige Erkenntnis, dass Gott überall ist und ohne seinen »Willen kein Haar vom Haupte eines Menschen fällt«, war mit den mörderischen und trostlosen Erfahrungen der Menschen in »Leben und Schicksal« nicht vereinbar. Angesichts des dezidiert amoralischen Auftretens des Nationalsozialismus erschien es widersinnig, die Geschichte in der Tradition des 19. Jahrhunderts als einen moralisch vernünftigen Prozess zu verstehen. Anfänglich hatte Grossman allein die faschistische Ideologie im Visier, doch mit der Zeit begriff er, dass Hitlerdeutschland nur die Variante einer weltweit sich im Anwachsen befindenden unmenschlichen Staatsform darstellte, die das Arsenal der modernen Wissenschaft und Technologie an sich gerissen hatte und willkürlich über das Schicksal von Individuen und ganzen Nationen richtete.
Letztlich war es Tolstois persönlicher Zuversicht, wie auch der Zuversicht des 19. Jahrhunderts insgesamt geschuldet, dass er einer deterministischen Philosophie anhing, in der die Menschen unabhängig von ihrem Willen gesteuert wurden. Wenn Grossman hingegen an einen Restbestand des freien Willens glaubte, so tat er das, weil ihm nichts anderes übrig blieb. Dieser Glaube war seine letzte Hoffnung. Seine Kernfrage lautete: was kann – ja, was muss – der Mensch tun, um seine Menschlichkeit zu bewahren? Grossman verstand dies als die Kernfrage seines Jahrhunderts. Sie ist unverändert aktuell.
Unter den Rotarmisten in der Frontstadt Stalingrad – das beschreibt Grossman nicht nur in seinem Roman, er hält es auch in seinem Kriegstagebuch fest – wird ein neuer menschlicher Geist geboren. Dies geschieht in Entgegensetzung zu den Deutschen, die nicht Menschen sind sondern infernalische Maschinen. In einer Szene von »Für die gerechte Sache« erscheint Generaloberst Paulus als ein Mechaniker. Sein Befehl zum Großangriff auf die Stadt setzt »Hunderte
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