Leben und Schicksal
von Rädern und kleinen Rädchen« in Bewegung, die in ihrer Zusammenwirkung dazu führen, dass die »schwere Axt des deutschen Krieges« über Stalingrad hereinbricht. Das Bild ist ein deutlicher Verweis auf die Turmuhr in »Krieg und Frieden«. Doch sind es nicht nur die Deutschen, die den menschlichen Geist und Zusammenhalt ihrer Widersacher fördern. Die Rotarmisten erleben auch untereinander neue Formen der Kameradschaft, sie lösen sich vom Misstrauen, dass die sowjetische Gesellschaft der Vorkriegszeit lähmte.
Der Roman erzählt dies durch die Figur des Parteikommissars Krymow, der im Krieg zu neuem Leben erwacht, sich an »die Stürme seiner revolutionären Jugend« erinnert fühlt und vom Mut und der Opferbereitschaft seiner Soldaten fasziniert ist. Wie sehr Krymow der Figur des Autors Grossman entspricht, kann man daraus entnehmen, dass der Kommissar im Roman ebenfalls Tolstois Gut in Jasnaja Poljana besucht, mit denselben Empfindungen, wie sie Grossman in seinem Tagebuch beschrieb. Krymows Glaube an die kathartische Wirkung dieses Kriegs wurde von Grossman geteilt. Sein langjähriger Freund Semjon Lipkin erinnert sich an eine Unterhaltung, die er mit Grossman in Stalingrad während der Schlacht führte: »Dieser Krieg, glaubte Grossman, würde den gesamten Stalinistischen Dreck vom Antlitz Russlands wegspülen. Das heilige Blut dieses Kriegs würde uns von den Blutflecken der zu Unrecht verfolgten Kulaken und der Säuberungen von 1937reinigen.« 15
In seinem Kriegstagebuch bemerkte Grossman zum gleichen Thema: »Im Krieg legt der Russe seiner Seele gleichsam ein weißes Hemd an. Sein Leben kann sündig sein, aber sein Sterben ist heilig. An der Front beweisen viele eine vollkommene Reinheit des Denkens und Fühlens, eine geradezu mönchische Bescheidenheit. Das Hinterland lebt nach einem anderen Gesetz und kann moralisch mit der Front niemals eins sein. Sein Gesetz ist das Leben, der Kampf ums Dasein. Heilig leben können wir nicht, aber heilig sterben durchaus. Die Front ist das Heilige des russischen Sterbens, das Hinterland das Sündige des russischen Lebens. An der Front alles zu ertragen, unvorstellbar Schweres ohne Murren hinzunehmen – das können nur starke Menschen. Das ist die Leidensfähigkeit eines gewaltigen Heeres, in der sich die unglaubliche Größe der Volksseelezeigt.« 16 Unwillkürlich denkt man an die Figur Platon Karatajews in »Krieg und Frieden«, Sinnbild des asketischen, Natur und Gott gleichermaßen verbundenen russischen Bauernsoldaten.
Die andere Romanfigur bei Grossman, die ihrem Autor besonders stark ähnelt, ist der Kernphysiker Viktor Strum: ein säkularer Jude, der sich der sowjetischen, ja russischen Intelligenzija zugehörig fühlt – bis der Krieg ausbricht. Viktors Mutter lebt, ebenso wie Grossmans Mutter, in Berditschew. Anders als Grossman jedoch erhält Viktor von seiner Mutter einen Abschiedsbrief aus dem jüdischen Ghetto. Der Brief, der in »Leben und Schicksal« ein ganzes Kapitel umfasst und auf ergreifende Weise das Leid der Juden Osteuropas schildert, bewirkt bei Viktor eine nachhaltige Veränderung: Er beginnt als Jude zu fühlen, und er empfindet eine neue Verantwortung für seine jüdischen Mitmenschen, unabhängig von seiner kulturellen und beruflichen Identität als Russe und sowjetischer Wissenschaftler. Was seine geistige Tätigkeit betrifft, so erlebt Strum ebenso wie Krymow die Kriegszeit als befreiend. Lange Zeit hatte Strum das Gefühl, dass seine physikalischen Experimente stecken geblieben waren, doch die ungebundene Arbeitsatmosphäre im evakuierten Institut verschafft ihm plötzlich neue Erkenntnisse über die Eigenschaften des Atoms. Er steht vor der Entdeckung der Kernfusion.
Die bittere Ironie bei Grossman besteht darin, dass die Freiheit, die zum Zeitpunkt der Schlacht um Stalingrad zur höchsten Ausfaltung gelangt, nur von kurzer Dauer und letztlich illusorisch ist. Just als der menschliche Geist das infernalische Prinzip des NS-Staates überwindet, erhebt sich eine neue Kraft, die diesen Sieg für sich beansprucht: die Staatsmacht. »Leben und Schicksal« ist deswegen so brisant, weil der Roman nicht nur Hitlerdeutschland, sondern auch das stalinistische Regime als totalitär geißelt. Beide Staaten mobilisieren ihre Gefolgschaft durch Ideologien von betörender Kraft, beide praktizieren Antisemitismus, und beide erscheinen als monströse Maschinerien, die Menschen in Arbeitslagern willkürlich zu Staub zerreiben.
Das
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