Leben und Schicksal
Schaposchnikows und Strums – miteinander in Bezug zu setzen. Dem psychologischen Realismus Tolstois verpflichtet, taucht Grossman tief in die innere Gedanken- und Gefühlswelt seiner Darsteller ein. Wie »Krieg und Frieden« offenbart Grossmans Romans eine menschliche Psychologie, die nicht frei ist von moralischen Anfechtungen und Schwächen.
Der Vorhang in »Krieg und Frieden« hebt sich im Jahre 1805 über Anna Scherers Petersburger Salon, in dem sich Aristokraten und Hofdamen geistreich über Napoleons Politik unterhalten, um sich dann mit vermehrtem Interesse den neuesten Intrigen am Zarenhof zuzuwenden. Von hier aus bereist Tolstois Erzähler weite Teile Russlands und Europas – provinzielle Landgüter und hauptstädtische Palais, adelige Offiziersklubs und einfache Soldatenlager, Schlachtfelder in Österreich, Deutschland und Russland. Der Leser ist nicht nur am Hofe Alexanders I. zugegen, sondern erhält auch Einblicke in die methodischen Pläne seines Widersachers Bonaparte, den europäischen Kontinent zu beherrschen. Das Buch gipfelt in der Beschreibung des Morgennebels bei Borodino, dem Austragungsort der entscheidenden Schlacht von 1812, in deren Gefolge Napoleon das von den Russen verlassene und zerstörte Moskau einnahm, aber wegen mangelnder Versorgung wieder aufgeben musste. Der Erzählbogen des Romans macht deutlich, wie sich der kulturelle Graben in Russland, auf den die französisch parlierende Petersburger Elite in der Eröffnungszene verweist, im Krieg von 1812 schließt, wie adelige Offiziere und Bauernsoldaten im Kampf gegen die Franzosen zusammenfinden und ein neues russisches Nationalbewusstsein begründen.
Grossmans Stalingrad-Epos setzt ebenfalls mit einer politischen Diskussion ein. Hitler und Mussolini, die beiden selbsternannten Herren Europas, kommen im April 1942 in den kalten Sälen des Erzbischöflichen Palais in Salzburg zusammen, um nach dem steckengebliebenenen Vorstoß des Vorjahres im erneuten Anlauf das Schicksal der Sowjetunion und Europas zu besiegeln. Im Anschluss hieran eröffnet Grossmans Erzähler ein kontinentales Panorama. Er begleitet Einheiten von Rotarmisten, die verzweifelt gegen die überlegenen Deutschen ankämpfen, und verfolgt den Exodus der nach Osten ziehenden Flüchtlingstrecks; er ist bei letzten Familientreffen zugegen, in deren Gefolge ein Teil der Familie ins Hinterland evakuiert wird und ein anderer an die Front eilt; er dokumentiert die Zerstörung russischer Städte durch deutsche Luftangriffe und schildert das Leben von russischen Soldaten in der Etappe, auf dem Weg zur Front und in den Schützengräben und Ruinen von Stalingrad. Er wohnt Stalin im Kreml bei und Hitler in der Berliner Reichskanzlei. Der Roman berichtet auch aus dem sibirischen Gulag, und er begleitet sowjetische Juden auf ihrem letzten Weg in deutsche Gaskammern. Die eindrucksvolle Eröffnungsszene von »Leben und Schicksal« beschreibt ein NS-Todeslager im nebligen Morgengrauen – womöglich ein Verweis auf Tolstois Nebel bei Borodino. Ähnlich wie Tolstoi zeichnet Grossman die Entfaltung eines Geistes der nationalen Befreiung im Krieg nach, und wie Tolstoi glaubt auch er, dass der Krieg dank des außergewöhnlichen Einsatzes von gewöhnlichen Soldaten gewonnen wurde; Tolstoi bezeichnete diese russische Elementarkraft als die »Keule des Volkskriegs«. Insgesamt ist Grossmans Erzählton jedoch weit dunkler als der Tolstois. Der tragische Ausklang von »Leben und Schicksal« ist dem heiteren, lebensbejahenden Geist von »Krieg und Frieden« gänzlich fremd.
Tolstoi ging es in seinem Roman besonders um die Frage, wie der geschichtliche Prozess funktionierte. Aus diesem Grund ordnete er seine Darsteller mit ihren kleinen alltäglichen Gedanken und Sorgen auf der Trasse des weltgeschichtlichen Geschehens an. Dass Napoleons Truppen auf ihrem Vormarsch nach Moskau an den Kahlen Bergen, dem Familiengut der Bolkonskijs vorbeizogen, ist nur ein Beispiel. Als Sendboten, Beobachter oder zufällige Augenzeugen sind Tolstois Helden immer wieder bei historischen Begebenheiten zugegen. Die Schilderung ihrer persönlichen Lebensgeschichten ist umrahmt von den Gedanken des Erzählers über den Sinn und die Bedeutung der menschlichen Existenz. Ebenso wie Tolstoi suchte Grossman den Charakter der epochalen Zeit zu verstehen, deren teilnehmender Beobachter er war. Wie in »Krieg und Frieden« nimmt Grossmans Erzähler zuweilen den Platz eines über den begrenzten Wirkungsfeldern der einzelnen
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