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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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besser, Pusitschenko persönlich, er gibt sie dir.«
    Er sah den Stoß fertiger Briefe, Vollmachten und Notizen durch und sagte: »Das scheint alles zu sein.«
    Beide verstummten.
    »Ich habe Angst um dich, mein Liebster«, sagte sie. »Du gehst in den Krieg …«
    Er erhob sich.
    »Pass gut auf dich auf … pass auf die Kinder auf … Hast du den Cognac in den Koffer getan?«
    »Ja, natürlich habe ich ihn hineingetan. Erinnerst du dich, vor zwei Jahren, da hast du mir auch genau wie jetzt bei Morgengrauen die Vollmachten ausgestellt und bist dann nach Kislowodsk geflogen …«
    »In Kislowodsk sind jetzt die Deutschen«, sagte Getmanow. Er schritt horchend im Zimmer auf und ab.
    »Ob sie wohl schlafen?«
    »Natürlich schlafen sie«, erwiderte Galina Terentjewna.
    Sie gingen ins Zimmer der Kinder hinüber. Es war erstaunlich, wie leise sich diese beiden korpulenten, schweren Gestalten im Halbdunkel bewegten. Die Köpfe der Kinder zeichneten sich dunkel auf dem weißen Leinen der Kissen ab.
    Getmanow lauschte ihren Atemzügen, die flache Hand an die Brust gepresst, damit sein laut schlagendes Herz sie nicht aus dem Schlaf schreckte. Jetzt, im morgendlichen Zwielicht, überfiel ihn ein fast schmerzhaftes Gefühl der Zärtlichkeit, der Sorge für die Kinder, ein unwiderstehliches Verlangen, seinen Sohn, seine Töchter in die Arme zu nehmen und ihre schlaftrunkenen Gesichter zu küssen. Er empfand die ganze Ohnmacht dieser Zärtlichkeit, dieser bedingungslosen Liebe. Verloren in Ratlosigkeit und Schwäche stand er da.
    Der Gedanke an die bevorstehende, für ihn völlig neue Tätigkeit ängstigte und beunruhigte ihn nicht. Wie oft war er schon mit neuen Aufgaben betraut worden, und jedes Mal hatte er mühelos die richtige »Linie« gefunden, die sich dann stets auch als die offizielle Linie erwies. Er wusste, dass es ihm auch beim Panzerkorps gelingen würde, diese Linie zu finden.
    Aber wie sollte man hier, in diesem Augenblick, unerbittliche Strenge und Festigkeit mit Zärtlichkeit verbinden, mit einer Liebe, die kein Gesetz und keine »Linie« kennt?
    Er suchte mit den Augen seine Frau. Sie stand neben ihm, die Wange wie eine Bäuerin in die flache Hand gestützt. Im Halbdunkel erschien ihr Gesicht schmal und jung – so hatte sie ausgesehen, als er zum ersten Mal nach der Heirat mit ihr an die See gefahren war, wo sie im Sanatorium »Ukraine« am Rande eines steilen Abhangs über dem Strand wohnten.
    Vor dem Fenster hörte man ein leises Hupen – das Auto des Gebietskomitees war da. Getmanow wandte sich ein letztes Mal nach den Kindern um, er breitete die Arme aus, und in dieser Geste lag seine ganze Hilflosigkeit angesichts eines Gefühls, dessen er nicht Herr werden konnte.
    Sie küssten sich zum Abschied, dann zog er im Flur seine Pelzjacke an, setzte die hohe Fellmütze auf und wartete noch einen Augenblick, bis sein Fahrer die Koffer hinausgetragen hatte.
    »Also dann …«, sagte er, nahm plötzlich die Pelzmütze wieder ab, ging auf seine Frau zu und umarmte sie noch einmal. Und bei diesem abermaligen Abschied, als die feuchtkalte Luft der Straße durch die halb offene Tür hereindrang und sich mit der Wärme des Hauses mischte, als das raue Fell der Pelzjacke die leichte Seide des Morgenrocks streifte, fühlten beide, dass ihr Leben, das für sie immer ein gemeinsames war, sich nun jäh spaltete. Und eine leise Trauer überkam sie.
    23
    Jewgenia Nikolajewna Schaposchnikowa fand in Kuibyschew Unterkunft bei einer alten Deutschen, Jenny Genrichowna Genrichson, die in den früheren Zeiten Gouvernante bei den Schaposchnikows gewesen war.
    Nach Stalingrad als Wohnort berührte es Jewgenia Nikolajewna seltsam, sich in dem stillen Stübchen Seite an Seite mit einer Greisin wiederzufinden, die sich immerzu wunderte, dass das kleine Mädchen mit den beiden Zöpfen eine erwachsene Frau geworden war.
    Die ziemlich finstere Kammer, die sie mit Jenny Genrichowna teilte, war einst in der großen Kaufmannswohnung das Zimmer der Dienstboten gewesen. Jetzt wohnte in jedem Zimmer eine ganze Familie, und alle Räume waren mit Hilfe von Wandschirmen, Vorhängen, Teppichen und Sofas in Nischen und Winkel unterteilt, in denen man schlief, aß, Gäste empfing und eine Sanitätsschwester einem gelähmten Greis Spritzen gab.
    Abends war die Küche vom Stimmengewirr der Mieter erfüllt. Jewgenia Nikolajewna gefiel diese Küche mit ihrer hohen, verräucherten Decke und dem rotschwarzen Feuer der Petroleumkocher.
    Zwischen den Leinen

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