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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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mit trocknender Wäsche lärmten die Mieter in Morgenröcken, wattierten Jacken und Kitteln, blitzten Töpfe und Messer. Über Zuber und Tröge geneigt, wirbelten waschende Frauen Dampfwolken auf. Der große Küchenherd wurde nie geheizt, seine Kacheln schimmerten in kaltem Weiß wie die schneebedeckten Hänge eines vor Urzeiten erloschenen Vulkans.
    Die Wohnung teilten sich die Familien eines an der Front kämpfenden Schauermanns, eines Frauenarztes und eines Fabrikingenieurs, dazu kam eine ledige Mutter, der Kassierer einer Lebensmittelverkaufsstelle, die Witwe eines im Krieg gefallenen Friseurs und ein Postamtsverwalter. Im größten Zimmer, dem ehemaligen Salon, wohnte der Direktor einer Poliklinik.
    Die Wohnung war weitläufig wie die Stadt selbst. Sie besaß sogar ihren eigenen Irren – ein stilles, altes Männchen mit den Augen eines gutmütigen jungen Hundes.
    Die Menschen lebten beengt und doch voneinander abgesondert. Man verkehrte nicht eben freundschaftlich miteinander, man stritt und versöhnte sich, suchte sein Leben voreinander zu verbergen und vertraute dabei den anderen doch laut und freimütig sämtliche persönlichen Belange an.
    Jewgenia Nikolajewna wünschte, sie hätte die Gegenstände und Menschen in dieser Wohnung malen können oder, besser, die Gefühle, die sie in ihr hervorriefen, vielfältige, schwer fassbare Gefühle. Selbst ein großer Meister hätte sie wohl nicht zum Ausdruck bringen können. Es war die Verbindung des heroischen Kampfwillens von Volk und Staat mit den Nichtigkeiten des Alltags, mit Klatsch und Armut, die diese Gefühle hervorrief – die Verbindung des tödlichen Stahls der Waffen mit den Kochtöpfen und Kartoffelschalen in dieser dunklen Küche. Der Versuch, diese Empfindungen sichtbar zu machen, verzerrte die Linien und ließ die Konturen in einem sinnlosen Gewirr zersplitternder Bilder und Lichtflecke zerfließen.
    Das alte Fräulein war ein schüchternes, sanftes und hilfsbereites Wesen. Jenny Genrichowna trug stets ein schwarzes Kleid mit einem weißen Krägelchen, ihre Wangen waren immer gerötet, obgleich sie nie genug zu essen hatte.
    In ihrem Kopf lebten die Erinnerungen an die Ungezogenheiten der Erstklässlerin Ljudmila, an die drolligen Ausdrücke der kleinen Marussja, an jene Szene fort, als der zweijährige Mitja in seiner Kinderschürze ins Speisezimmer gelaufen kam, in die Hände klatschte und »babedatj,babedatj« 14 rief.
    Jenny Genrichowna hatte bei einer Zahnärztin eine Anstellung als Hausgehilfin gefunden; sie hatte die Aufgabe, deren kranke Mutter zu pflegen. Die Zahnärztin bereiste für das städtische Gesundheitsamt regelmäßig den Verwaltungsbezirk. Sie war oft fünf oder sechs Tage abwesend. Jenny Genrichowna übernachtete dann dort, um sich der hilflosen alten Frau anzunehmen, die sich seit ihrem letzten Schlaganfall kaum noch bewegen konnte.
    Ihrem Wesen war jeglicher Besitzinstinkt fremd. Sie entschuldigte sich ständig bei Jewgenia Nikolajewna, bat sie um Erlaubnis, wenn sie die Fensterklappe für die Spaziergänge ihres alten, dreifarbigen Katers öffnen wollte. Ihre Sorgen und Aufregungen galten zumeist dem Kater, und sie lebte in ständiger Angst, die Nachbarn könnten ihm etwas antun.
    Ihr Zimmernachbar, der Ingenieur Dragin – Abteilungsleiter in einem Betrieb –, hatte die Angewohnheit, mit einem boshaften Lächeln seine Blicke über ihr runzliges Gesicht, ihre mädchenhafte, magere Figur und ihren an einer schwarzen Schnur herabhängenden Kneifer wandern zu lassen. Sein plebejisches Herz empörte sich darüber, dass die Greisin ihren Erinnerungen aus längst vergangenen Tagen nachhing und nicht müde wurde, mit einem einfältig glückseligen Lächeln zu erzählen, wie sie vor der Revolution mit ihren Zöglingen in einer Equipage auszufahren pflegte und wie sie Madame auf ihren Reisen nach Venedig, Paris oder Wien begleitet hatte. So mancher der von ihr verhätschelten »Knirpse« war später zu Denikin oder Wrangel gegangen und im Kampf mit den Bolschewiken gefallen. Das alte Fräulein interessierten aber nur das Scharlachfieber, die Diphtherie und die Durchfälle, an denen ihre Kleinen gelitten hatten.
    Jewgenia Nikolajewna versuchte, Dragin umzustimmen. »Ein sanfteres, fügsameres Wesen ist mir noch nie begegnet«, sagte sie ihm. »Glauben Sie mir, sie hat mehr Herzensgüte als alle, die hier wohnen.«
    Dragin schaute Jewgenia Nikolajewna mit einem unverschämten Männerblick in die Augen.
    »Sing, Schwalbe, sing«, sagte

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