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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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hatte im Wohnheim mit einem Luftgewehr auf ein Stalin-Bild geschossen.
    Beiden war sofort klar gewesen: Dieser Idiot von Student hatte ganz einfach Unfug getrieben. Er hatte keinerlei politische oder terroristische Beweggründe. Ihr Landsmann, ein prächtiger Mensch – er war Direktor einer Maschinen- und Traktorenstation –, hatte Getmanow gebeten, seinem Neffen aus der Patsche zu helfen. Nach einer Sitzung des Gebietskomitees hatte Getmanow den Fall mit Maschtschuk besprochen.
    »Dementi Trifonowitsch«, hatte Maschtschuk gesagt, »wir sind doch keine Kinder – schuldig oder nicht schuldig, was bedeutet das schon … Aber sehen Sie, wenn ich den Fall jetzt einfach begrabe, wird man morgen nach Moskau melden, vielleicht sogar Lawrenti Pawlowitsch persönlich, dass der liberale Maschtschuk es durchgehen lässt, wenn auf das Bild des großen Stalin geschossen wird. Heute sitze ich hier in meinem Büro – und morgen bin ich nur noch Staub in einem Sträflingslager. Wollen Sie die Verantwortung auf sich nehmen? Ja? Dann wird es auch von Ihnen heißen: ›Heute auf das Bild – und morgen … Getmanow muss doch etwas an dem Burschen gefunden haben. Oder billigt er etwa die Tat?‹ Nun? Wollen Sie das auf sich nehmen?«
    Einen oder zwei Monate später erkundigte sich Getmanow bei Maschtschuk: »Nun, was ist aus unserem Schützen geworden?«
    Maschtschuk sah ihn unbewegt an und antwortete: »Nicht der Rede wert. Ein Schurke, von den Kulaken gedungen, beim Verhör hat er alles gestanden …«
    Und jetzt wiederholte Getmanow, während er Maschtschuk forschend ansah: »Nein, das ist kein kindlicher Übermut…«
    »Ach was«, beschwichtigte der ihn, »der Junge ist noch keine fünf, schließlich sollte man sein Alter nicht vergessen.«
    »Ich gebe ganz offen zu«, sagte Sagaidak so tief bewegt, dass alle die Wärme seiner Worte fühlten, »ich bin zu schwach, um Kindern gegenüber Prinzipien zu haben … Ich weiß, man sollte sie haben, aber mir fehlt die Kraft dazu. Ich sehe sie an und denke nur, hoffentlich bleiben sie gesund …«
    Alle sahen Sagaidak teilnahmsvoll an. Er war ein unglücklicher Vater. Sein ältester Sohn Witali hatte schon als Schüler der neunten Klasse ein zügelloses Leben geführt. Einmal war er von der Miliz bei einem wüsten Gelage in einem Restaurant festgenommen worden, und sein Vater hatte den stellvertretenden Volkskommissar für innere Angelegenheiten telefonisch bitten müssen, den Skandal zu vertuschen, in den die Söhne hochgestellter Persönlichkeiten verwickelt waren – die Söhne von Generälen und Akademiemitgliedern sowie die Tochter eines Schriftstellers und die des Volkskommissars für Landwirtschaft. Nach Ausbruch des Krieges wollte sich der junge Sagaidak als Freiwilliger zur Armee melden, und sein Vater brachte ihn in einer Artillerieschule unter. Witali wurde wegen Verstoßes gegen die Disziplin gefeuert, und man drohte ihm an, ihn mit einer Kompanie an die Front zu schicken.
    Seit einem Monat befand sich Witali nun in einer Granatwerferschule, und es hatte noch keine Geschichten gegeben. Sein Vater und seine Mutter waren erleichtert und voller Hoffnung, aber im Stillen trauten sie dem Frieden nicht.
    Sagaidaks jüngerer Sohn Igor war als Zweijähriger an Kinderlähmung erkrankt und zum Krüppel geworden. Er ging an Krücken, seine knochigen, dünnen Beine hatten keine Kraft. Igor konnte die Schule nicht besuchen, die Lehrer kamen zu ihm ins Haus. Er lernte gern und war ein fleißiger Schüler.
    Nicht nur in der Ukraine, auch in Moskau, in Leningrad, ja, sogar in Tomsk gab es keinen Neuropathologen von Ruf, den das Ehepaar nicht konsultiert, kein neues ausländisches Medikament, das Sagaidak sich nicht durch eine sowjetische Handelsvertretung oder Botschaft verschafft hätte. Er wusste, dass man ihm die Maßlosigkeit seiner Vaterliebe zum Vorwurf machen konnte und musste. Aber er wusste auch: Sein Vergehen war keine Todsünde. Denn wann immer er solchen leidenschaftlichen Vatergefühlen bei anderen leitenden Funktionären seines Verwaltungsbezirks begegnete, hielt er ihnen zugute, dass die Menschen des »neuen Typs« offenbar besonders innig an ihren Kindern hingen. Er zweifelte nicht einmal daran, dass man ihm auch die Wunderheilerin nachsehen würde, die er für Igor im Flugzeug aus Odessa hatte kommen lassen, und sicher auch das Zauberkraut eines im Fernen Osten hohe Verehrung genießenden Alten, das im Gepäck eines Kuriers nach Kiew gelangt war.
    »Unsere Führer sind

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