Leben und Schicksal
er. »An die Deutschen haben Sie sich verkauft, Genossin Schaposchnikowa, für ein bisschen Wohnraum.«
Jenny Genrichowna mochte offenbar keine gesunden Kinder. Mit besonderer Vorliebe erzählte sie Jewgenia Nikolajewna von ihrem schwächlichsten Zögling, dem Sohn eines jüdischen Fabrikanten. Sie hatte seine Zeichnungen und Schulhefte aufbewahrt und brach jedes Mal in Tränen aus, wenn sie an die Stelle ihres Berichts kam, wo sie den Tod dieses stillen Kindes beschrieb.
Viele Jahre waren vergangen, seit sie bei den Schaposchnikows gelebt hatte, aber sie entsann sich noch genau der Namen und Kosenamen jedes Kindes, und sie weinte, als sie von Marussjas Tod erfuhr. In ihrer Krakelschrift versuchte sie, Alexandra Wladimirowna einen Brief nach Kasan zu schreiben, brachte ihn jedoch einfach nicht zu Ende.
Gewöhnlichen Hechtrogen nannte sie Kaviar, und sie erzählte Genia gern, dass ihre Zöglinge vor der Revolution zum Frühstück eine Tasse kräftige Fleischbrühe und ein Rentierschnitzel bekamen. Mit ihren Lebensmittelrationen ernährte sie den Kater, den sie »mein geliebtes, goldiges Kind« rief. Der Kater, ein ruppiges Vieh, vergötterte sie, er wurde zärtlich und verspielt, sobald er seine Herrin sah.
Dragin hörte nicht auf, Jenny Genrichowna über ihre Meinung zu Hitler auszufragen. »Na, Sie freuen sich wohl?«, sagte er immer wieder, aber die schlaue Alte bezeichnete sich als Antifaschistin und nannte den Führer einen Kannibalen.
Sie war zu nichts zu gebrauchen, konnte weder waschen noch kochen, und wenn sie einen Laden betrat, um Zündhölzer zu kaufen, ließ sie sich vom Verkäufer in der Eile gewiss statt der dafür bestimmten Marken die für die monatliche Zucker- oder Fleischration abschneiden.
Die Kinder von heute hatten gar keine Ähnlichkeit mit ihren Zöglingen aus jener Zeit, die sie »die Friedenszeit« nannte. Alles war anders geworden, sogar die Kinderspiele: Die kleinen Mädchen aus der »Friedenszeit« trieben Reifen, ließen Gummi-Diabolos an einer zwischen lackierten Stäbchen befestigten Schnur in die Höhe schnellen und spielten mit rissigen, buntbemalten Bällen, die sie in einem weißen Netz mit sich herumtrugen. Jetzt schwammen die Mädchen im Kraulstil, spielten Volleyball und im Winter in Skihosen Eishockey, sie brüllten und pfiffen. Sie kannten mehr Geschichten als Jenny Genrichowna von Abtreibungen, Alimenten, erschwindelten Arbeitskarten, von Ober- und Oberstleutnants, die fremden Ehefrauen Fett und Konserven von der Front mitbrachten.
Jewgenia Nikolajewna hatte es gern, wenn ihr die alte Deutsche ihre, Genias, Kindheit schilderte und von ihrem Vater und ihrem Bruder Dmitri berichtete, an den Jenny Genrichowna sich besonders gut erinnerte, denn sie hatte miterlebt, wie er Keuchhusten bekam und an Diphtherie erkrankte.
Einmal sagte Jenny Genrichowna: »Ich denke an meine letzte Herrschaft. Das war 1917. Monsieur war Vizefinanzminister – ich sehe ihn noch im Speisezimmer auf und ab schreiten und stöhnen: ›Alles ist hin, man steckt die Güter in Brand, die Fabriken sind stillgelegt, die Währung ist zusammengebrochen, die Panzerschränke sind ausgeraubt …‹ Und dann, wie jetzt bei Ihnen, fiel die ganze Familie auseinander – Monsieur, Madame und Mademoiselle reisten nach Schweden aus, mein Zögling ging als Freiwilliger zu Kornilow. Madame jammerte: ›Tagelang tun wir nichts als Abschied nehmen. Das ist das Ende!‹«
Jewgenia Nikolajewna lächelte traurig, ohne etwas zu erwidern.
Eines Abends kam ein Mann vom Revier und überbrachte Jenny Genrichowna eine Vorladung. Die alte Deutsche setzte ihren Hut mit der weißen Blume auf, bat Genia, ihren Kater zu füttern, und sagte ihr, sie begebe sich zur Miliz. Von dort aus wollte sie zu ihrer Stelle, zur Mutter der Zahnärztin, gehen und versprach, am nächsten Tag zurück zu sein. Als Jewgenia Nikolajewna von der Arbeit heimkam, fand sie ihr Zimmer verwüstet. Die Nachbarn teilten ihr mit, dass Jenny Genrichowna von der Miliz abgeholt worden sei.
Jewgenia Nikolajewna ging sich nach ihr erkundigen. Auf dem Revier sagte man ihr, die Greisin würde mit einem Massentransport von Deutschen nach dem Norden abgeschoben.
Am nächsten Tag erschien ein Mann vom Revier in Begleitung des Hausverwalters und holte den versiegelten Korb voll alter Lumpen, verblasster Fotografien und vergilbter Briefe ab.
Genia begab sich zum NKWD, um Auskunft zu bekommen, wo sie ein warmes Tuch für die alte Frau abgeben könne. Der Mann am
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