Leben und Schicksal
alle überzeugt, dass das, was die Deutschen von Jakow behaupteten, nicht ganz erlogen war. Aber gerade deshalb durfte dieses Thema nicht angesprochen werden.
Sagaidak kannte sich in diesen Dingen besonders gut aus. Er war ein alter Zeitungsmann. In der Informationsabteilung hatte er angefangen, später den landwirtschaftlichen Teil geleitet und war dann etwa zwei Jahre lang Redakteur des Parteiblatts in einer der Republiken gewesen. Die Hauptaufgabe seiner Zeitung hatte er darin gesehen, den Leser zu erziehen, nicht aber darin, ihn wahllos über ein Sammelsurium oft ganz zufälliger Begebenheiten zu informieren. Wenn der Redakteur Sagaidak es für richtig hielt, das eine oder andere Ereignis zu übergehen, eine Missernte, ein ideologisch bedenkliches Gedicht, ein formalistisches Gemälde, ein Viehsterben, ein Erdbeben, den Untergang eines Linienschiffs unerwähnt zu lassen, die Gewalt einer Sturmflut, die Tausende von Menschen wegschwemmte, oder den verheerenden Brand in einem Bergwerk zu ignorieren – dann kam diesen Vorfällen in seinen Augen keinerlei Bedeutung zu, und folglich durften sie auch die Leser, die Journalisten und Schriftsteller nicht beschäftigen. Bisweilen sah er sich genötigt, ein bestimmtes Ereignis im Leben auf besondere Weise zu erklären, und seine Erklärung zeichnete sich dann durch bestürzende Kühnheit und eine der landläufigen Denkweise widersprechende Originalität aus. Er glaubte, seine überragenden Fähigkeiten als Redakteur drückten sich darin aus, dass er dem Leser die notwendigen didaktischen Vorstellungen nahezubringen verstand.
Als es während der totalen Kollektivierung der Landwirtschaft zu brutalen Übergriffen kam, hatte Sagaidak schon vor dem Erscheinen von Stalins Artikel »Vor Erfolgen von Schwindel befallen« geschrieben, es sei nur deshalb zu der damals herrschenden Hungersnot gekommen, weil die Kulaken aus Trotz ihr Getreide vergruben; aus Trotz aßen sie selbst nichts davon, und ihre Körper blähten sich krankhaft auf, und aus Trotz gegen den Staat starben ganze Dörfer samt Kindern und Greisen.
An dieser Stelle hatte er Berichte angeführt, aus denen hervorging, dass die Kinder in den Krippen der Kolchosen täglich Hühnerbrühe, Fleischpiroggen und Reisklöße erhielten. In Wirklichkeit aber magerten die Kinder zu Skeletten ab, und ihre Bäuche blähten sich auf.
Dann brach der Krieg aus, einer der unmenschlichsten und furchtbarsten, die Russland in den tausend Jahren seines Bestehens heimgesucht hatten. Und sein vernichtendes Feuer rückte besonders während der grausamen Prüfungen der ersten Wochen und Monate den verhängnisvollen wahren Verlauf der Ereignisse in den Vordergrund. Der Krieg bestimmte das Schicksal jedes Einzelnen, sogar das der Partei. Als die Zeit der ersten Schrecken vorüber war, erklärte der Dramatiker Kornejtschuk in seinem Stück »Die Front«, die Schuld an den erlittenen Niederlagen treffe die Generäle, die unfähig gewesen seien, die Weisungen des unfehlbaren Oberkommandos auszuführen.
An diesem Abend war es nicht nur Nikolai Terentjewitsch bestimmt, einen peinlichen Augenblick durchzustehen. Maschtschuk, der in einem großen Fotoalbum mit Ledereinband blätterte und die Fotos auf den Kartonseiten betrachtete, zog plötzlich so vielsagend die Augenbrauen hoch, dass alle das Album sehen wollten. Auf dem Bild aus Vorkriegstagen saß Getmanow in seinem Dienstzimmer an seinem riesigen Schreibtisch – unermesslich wie die Steppe – in einer Bluse von halbmilitärischem Schnitt. Über ihm an der Wand hing ein Stalin-Bildnis von so gewaltigem Format, wie man es gewöhnlich nur im Büro des Sekretärs eines Gebietskomitees der Partei findet. Stalins Antlitz war mit Buntstift übermalt, sein Kinn zierte ein dunkelblauer Spitzbart, an seinen Ohren hingen himmelblaue Ohrringe.
»Dieser Schlingel!«, rief Getmanow und schlug sogar entsetzt die Hände zusammen wie ein Weib.
Galina Terentjewna war verwirrt und wiederholte, während sie die Gäste der Reihe nach ansah: »Wissen Sie, dabei hat er mir noch gestern Abend vor dem Einschlafen gesagt: ›Ich habe Onkel Stalin so lieb wie Papa!‹«
»Kindlicher Übermut, weiter nichts«, sagte Sagaidak.
»Nein, nein, das ist kein kindlicher Übermut«, seufzte Getmanow, »das ist böswilliges Rowdytum!«
Forschend sah er Maschtschuk an, und sie beide erinnerten sich in diesem Augenblick an eine Begebenheit aus der Vorkriegszeit: Der Neffe eines Landsmanns, ein Student des Polytechnikums,
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