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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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Dinner im Hotelrestaurant, das ihr gegen einen Gutschein serviert wurde, ihre nicht verzehrte Brotscheibe und den übriggebliebenen Zuckerwürfel in Zeitungspapier eingewickelt mit auf ihr Zimmer zu nehmen. Die Chefs der Büros von Nachrichtenagenturen durchstreiften die Märkte, drängten und stießen sich zwischen Kriegsversehrten hindurch und erörterten eingehend die Vorzüge der verschiedenen Sorten selbstgezogenen und hausfermentierten Tabaks, aus dem sie sich mit grobem Papier Zigaretten drehten, während sie, von einem Bein aufs andere tretend, vor den Bädern Schlange standen. Berühmte Autoren, die für ihre Gastfreundschaft bekannt waren, diskutierten über Fragen der Weltpolitik und das Schicksal der Literatur bei einem Gläschen selbstgebranntem Schnaps und verzehrten dazu ihre Brotration.
    Mammutbehörden fanden sich in die engen Stockwerke von Kuibyschews Gebäuden gezwängt, die Chefredakteure der großen Sowjetzeitungen empfingen ihre Besucher an Tischen, auf denen nach Büroschluss Kinder ihre Schularbeiten machten und Frauen Kleider ausbesserten.
    Diese Mischung aus gigantischem Staatsapparat und Evakuierungsboheme hatte etwas Anziehendes.
    Jewgenia Nikolajewnas Kampf um ihre Eintragung beim Meldeamt stellte ihre Nerven auf eine harte Probe.
    Der Direktor des Konstruktionsbüros, in dem sie angefangen hatte zu arbeiten, Oberstleutnant Risin, ein stattlicher Mann mit einer leisen, fast summenden Stimme, stöhnte vom ersten Tag an über die Verantwortung eines Chefs, der einen nicht ordnungsgemäß gemeldeten Mitarbeiter beschäftigt. Er stellte ihr eine Arbeitsbescheinigung aus und befahl ihr, damit zur Miliz zu gehen.
    Der zuständige Beamte auf dem Revier nahm Jewgenia Nikolajewna den Pass und die Bescheinigung ab. Sie solle in drei Tagen wiederkommen und sich den Bescheid abholen.
    Am festgesetzten Tag betrat Jewgenia Nikolajewna einen dämmrigen Korridor, in dem andere Antragsteller auf ihre Abfertigung warteten. Alle hatten jenen besonderen Gesichtsausdruck, den man nur bei Personen findet, die in Pass- oder Meldeangelegenheiten bei der Miliz vorsprechen müssen. Sie ging zu einem Schalter. Eine Frauenhand mit tiefrot lackierten Nägeln schob ihr den Pass durch das Schalterfenster, und eine ruhige Stimme sagte: »Abschlägig beschieden.«
    Jewgenia Nikolajewna reihte sich in die Schlange der Wartenden ein, die den Leiter der Passstelle persönlich sprechen wollten. Die Leute unterhielten sich im Flüsterton, während sie auf die geschminkten Lippen, hohen Stiefel und wattierten Jacken der durch den Gang eilenden Büromädchen schielten. Mit knarrenden Stiefeln schritt langsam ein Mann in Überzieher und Sportmütze – unter seinem Halstuch sah der Kragen einer Militärbluse hervor – an den Wartenden vorüber und öffnete mit einem kleinen Schlüssel ein offenbar englisches oder französisches Türschloss. Es war Grischin, der Leiter der Passstelle. Die Sprechstunde begann. Jewgenia Nikolajewna bemerkte, dass die Schlangestehenden, wenn sie endlich an der Reihe waren, keine Freude erkennen ließen, wie das sonst nach langem Warten der Fall ist, sondern dass sie auf dem Weg zu Grischins Büro verstohlen um sich blickten, als wollten sie in der letzten Minute das Weite suchen.
    Während des Wartens hörte Jewgenia Nikolajewna mit, wie von Töchtern erzählt wurde, denen man nicht erlaubte, bei ihren Müttern zu wohnen. Eine Gelähmte durfte nicht von ihrem Bruder aufgenommen werden. Eine Frau, die nach Kuibyschew gekommen war, um einen Kriegskrüppel zu pflegen, hatte auch keine Aufenthaltserlaubnis erhalten.
    Endlich stand Jewgenia Nikolajewna vor Grischin. Er wies mit dem Finger auf einen Stuhl, blätterte in ihren Papieren und sagte: »Sie sind doch abschlägig beschieden worden. Was wollen Sie denn noch?«
    »Genosse Grischin«, erwiderte Jewgenia Nikolajewna mit zitternder Stimme, »verstehen Sie bitte, diese ganze Zeit über gibt man mir doch keine Lebensmittelkarten …«
    Er sah sie an, ohne mit der Wimper zu zucken, sein breites, junges Gesicht drückte zerstreute Gleichgültigkeit aus.
    »Genosse Grischin«, sagte Genia, »bedenken Sie doch – in Kuibyschew gibt es eine Schaposchnikowstraße. Das war mein Vater – er war einer der Pioniere der revolutionären Bewegung von Samara. Und seiner Tochter verweigern Sie die Anmeldung …«
    Grischin sah sie mit ruhigen Augen an – er hörte, was sie sagte.
    »Ich brauche eine Anforderung Ihres Chefs«, erwiderte er. »Ohne Anforderung

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