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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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Auf Grischin machte ihr Anblick keinen größeren Eindruck als der eines triefäugigen alten Weibes oder eines Krüppels. In dem Augenblick, in dem sie sein Dienstzimmer betrat, war sie keine junge Frau, kein menschliches Wesen mehr, sondern nur noch Antragstellerin.
    Die eigene Schwäche und Grischins unerbittliche, eiserne Härte nahmen ihr alle Sicherheit. Verstört eilte sie durch die Straßen, verspätete sich trotzdem um eine gute Stunde und hatte, als sie Limonows Hotel erreichte, alle Freude an dem bevorstehenden Wiedersehen verloren. Der Geruch im Korridor des Polizeireviers verfolgte sie, immer noch sah sie die Gesichter der Wartenden vor sich, das vom trüben elektrischen Licht erhellte Stalin-Bild und daneben Grischin, den Unerschütterlichen, der seine sterbliche Seele zum Granit der staatlichen Allmacht verhärtet hatte.
    Limonow, beleibt und stattlich, mit einem wuchtigen Kopf und jugendlichen Locken um eine breite Glatze, empfing Genia mit großer Wärme.
    »Ich fürchtete schon, Sie würden nicht kommen«, sagte er, während er ihr aus dem Mantel half. Dann fragte er sie nach ihrer Mutter Alexandra Wladimirowna aus.
    »Ihre Mutter verkörperte für mich schon in meinen Studentenjahren die russische Frau mit dem Herzen eines Mannes. Ich erzähle von ihr in allen meinen Büchern, ich meine, nicht von ihrer Person, sondern allgemein – Sie verstehen schon.«
    Leise und mit einem Blick auf die Tür erkundigte er sich: »Hört man irgendetwas von Dmitri?«
    Dann begann er über Malerei zu sprechen, und beide schimpften gemeinsam auf Repin. Limonow machte sich daran, auf einem elektrischen Kocher Rührei zuzubereiten, wobei er behauptete, er sei der größte Spezialist für Omeletts im ganzen Land – der Chef des Restaurants »National« habe bei ihm gelernt.
    »Nun, schmeckt’s?«, fragte er fürsorglich, während er Genia bewirtete. Mit einem Seufzer fügte er hinzu: »Ich gestehe, ich habe nun mal eine Leidenschaft fürs Fressen.«
    Wie schwer lastete der Druck ihrer Erfahrungen mit der Miliz auf Genia! Selbst in Limonows warmem Zimmer, in dem sich Bücher und Zeitschriften türmten und bald noch zwei Besucher erschienen, zwei ältere, geistreiche und kunstliebende Männer, fühlte sie fröstelnd die ganze Zeit über die Anwesenheit Grischins.
    Doch die Macht des freien, klugen Wortes ist groß. Es gab Augenblicke, da vergaß Jewgenia Nikolajewna Grischin und die freudlosen Gesichter der Schlangestehenden vom Polizeirevier. Da hatte sie das Gefühl, es gebe in ihrem Leben nichts als Gespräche über Rubljow und Picasso, über Gedichte von Achmatowa und Pasternak oder die Dramen Bulgakows.
    Dann stand sie wieder auf der Straße, und sofort waren diese Gespräche wie ausgelöscht.
    Grischin, Grischin … In ihrer Wohnung fragte niemand sie danach, ob sie gemeldet war oder nicht, niemand verlangte, dass sie einen Pass mit Anmeldungsvermerk vorzeigte. Aber es schien ihr schon seit einigen Tagen, dass die Wohnungsälteste, Glafìra Dmitriewna, eine flinke, stets überfreundliche Person mit langer Nase und schmeichelnder, grenzenlos falscher Stimme, ihr nachspionierte. Jedes Mal, wenn sie Glafira unerwartet begegnete und ihr in die dunklen, freundlichen und zugleich harten Augen sah, erschrak Genia. Sie hatte den Verdacht, dass Glafira Dmitriewna sich während ihrer Abwesenheit mit Hilfe eines nachgemachten Schlüssels in ihr Zimmer einschlich, in ihren Papieren wühlte, Abschriften von ihren Eingaben an die Miliz machte und ihre Post las.
    Sie bemühte sich, die Tür geräuschlos zu öffnen, sie schlich auf Zehenspitzen durch den Korridor, aus Furcht, der Wohnungsältesten über den Weg zu laufen und sie im nächsten Augenblick sagen zu hören: »Ach – Sie halten sich nicht an die Gesetze, und ich soll für Sie zur Verantwortung gezogen werden?«
    Am nächsten Morgen ging Jewgenia Nikolajewna zu Risin und berichtete ihm von ihrer neuen Niederlage auf der Passstelle.
    »Bitte helfen Sie mir, einen Fahrschein für das Schiff nach Kasan zu bekommen – sonst wird man mich wahrscheinlich wegen Übertretung der Passvorschriften zum Torfstechen in ein Lager schicken.«
    Sie bat ihn nicht mehr, ihr bei der Anmeldung zu helfen. Ihr Ton war scharf und höhnisch.
    Der große, gutaussehende Mann mit der leisen Stimme sah sie an. Er schämte sich seiner Ängstlichkeit. Sie fühlte unaufhörlich seine verlangenden, zärtlichen Blicke auf sich gerichtet – auf ihre Schultern, ihre Beine, ihren Hals, ihren Nacken.

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