Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
Vom Netzwerk:
Aber mit den geheimnisvollen Gesetzen, die den amtlichen Schriftverkehr regelten, ließ sich offenbar nicht spaßen.
    Noch am selben Tag trat Risin an ihren Tisch und legte wortlos die heißersehnte Bescheinigung auf das Zeichenblatt, das sie in Arbeit hatte.
    Genia sah ihn ebenso wortlos an, und Tränen traten ihr in die Augen.
    »Ich habe sie über die Geheimabteilung angefordert«, erklärte ihr Risin, »eigentlich, ohne mir etwas davon zu erhoffen. Aber dann, völlig unerwartet, erhielt ich die Zustimmung des Chefs …«
    Die Kollegen gratulierten ihr.
    Von allen Seiten hörte sie: »Jetzt haben Ihre Sorgen ein Ende!«
    Sie ging zur Miliz. Die Leute in der Schlange nickten ihr zu und erkundigten sich: »Na, wie steht’s?« Man rief ihr zu: »Gehen Sie doch einfach hinein … Es dauert bestimmt nicht länger als eine Minute … Wozu wieder zwei Stunden warten?«
    Der Büroschreibtisch und der feuerfeste Aktenschrank mit dem schlampigen braunen Anstrich, der eine natürliche Holzmaserung vortäuschte, erschienen ihr nicht mehr so düster, so trostlos bürokratisch.
    Grischin sah zu, wie Genia hastig das gewünschte Papier vor ihm entfaltete, und gab mit einem kaum wahrnehmbaren Kopfnicken seine Befriedigung zu erkennen.
    »Na schön, lassen Sie mir den Pass und die Bescheinigung hier, in drei Tagen können Sie sich Ihre Papiere während der Sprechzeit in der Registratur abholen.«
    Seine Stimme hatte den gewohnten Klang, aber die hellen Augen schienen ihr zuzulächeln.
    Sie ging nach Hause und fand, dass sich Grischin doch als Mensch wie alle anderen entpuppt hatte – er konnte Gutes tun, sogar lächeln, war nicht herzlos –, und ihr wurde unbehaglich zumute wegen all des Schlechten, das sie über den Leiter der Passabteilung gedacht hatte.
    Drei Tage später schob die große Frauenhand mit den tiefrot lackierten Nägeln ihren Pass mit den sorgfältig darin gefalteten Papieren durch das Schalterfenster. Genia las den mit energischer Hand geschriebenen Bescheid: »Die Eintragung ins Melderegister ist, da mit der vorhandenen Wohnfläche unvereinbar, abgelehnt.«
    »Dieser Hurensohn!«, sagte Genia laut, und unfähig, sich zu beherrschen, fuhr sie fort: »Dieser Halunke! Dieser herzlose Peiniger!«
    Sie schrie fast, fuchtelte mit ihrem Pass ohne Anmeldungsvermerk in der Luft herum, sah die Wartenden an, als wolle sie sie um ihren Beistand anflehen. Die aber wandten sich ab. Ein Gefühl von Aufruhr flammte für einen Augenblick in ihr auf, ein Gefühl der Verzweiflung und der Raserei. So mochten die Frauen in den Warteschlangen im Jahr 1937 geschrien haben, wenn sie, des Rechts auf Briefverkehr mit ihren verhafteten Angehörigen beraubt, in den dunklen Besuchsräumen der Moskauer Gefängnisse Butyrka und Matrosenruhe auf eine Auskunft über das Schicksal der Verurteilten warteten.
    Der im Gang postierte Milizionär fasste Genia beim Ellbogen und schob sie zur Tür.
    »Lassen Sie mich los!« Sie entriss ihm ihren Arm und stieß ihn von sich weg. »Rühren Sie mich nicht an!«
    »Bürgerin, hören Sie auf«, sagte er heiser, »oder kommt es Ihnen auf zehn Jahre nicht an?«
    Genia glaubte in den Augen des Milizionärs einen flüchtigen Ausdruck der Anteilnahme, des Mitgefühls zu erkennen.
    Sie ging mit raschen Schritten zum Ausgang. In der Menge auf der Straße stießen die Leute sie an – alle waren gemeldet, alle hatten Lebensmittelkarten und waren bei einer Verteilungsstelle eingetragen.
    In der Nacht träumte sie von einer Feuersbrunst. Sie stand über einen Verwundeten gebeugt, dessen Gesicht in der Erde steckte, sie versuchte, ihn wegzuschleppen, und obwohl sie sein Gesicht nicht sehen konnte, wusste sie, dass es Krymow war.
    Erschöpft und niedergeschlagen erwachte sie.
    »Wenn er doch schon käme!«, dachte sie, während sie sich ankleidete. »Hilf mir, hilf mir!«, flüsterte sie vor sich hin.
    Und ein leidenschaftliches, an Schmerz grenzendes Verlangen ergriff sie, ihn wiederzusehen – nicht Krymow, den sie in der Nacht gerettet hatte, sondern Nowikow, so wie sie ihn im Sommer in Stalingrad gesehen hatte.
    Diese rechtlose Existenz, ohne Aufenthaltserlaubnis, ohne Lebensmittelmarken, in ewiger Angst vor dem Hausmeister, dem Hausverwalter, der Wohnungsältesten Glafira Dmitriewna war qualvoll bis zur Unerträglichkeit. Genia schlich sich in die Küche, wenn alles schlief, wusch sich am frühen Morgen, bevor die übrigen Mieter aufwachten. Und wenn einer von ihnen sie ansprach, fühlte sie, wie ihre Stimme

Weitere Kostenlose Bücher