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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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Lippen.
    Da trat der Sanitäter Medwedjew in den Krankensaal und teilte mit, dass der Leiter der chirurgischen Station, der Militärarzt Platonow, Schwester Terentjewa ans Telefon rufen lasse. Die Schwester ging ins Zimmer der Etagenaufseherin, nahm den Hörer auf und berichtete Platonow, dass der Kranke erwacht und sein Befinden so normal sei, wie es eben nach einer gerade überstandenen schweren Operation zu erwarten sei. Sie bat den Militärarzt um Ablösung – sie hatte einige dringende Angelegenheiten im Städtischen Kriegskommissariat zu erledigen. Platonow versprach, sie aus ihrer Pflicht zu entlassen, ordnete jedoch an, Schaposchnikow so lange zu beobachten, bis er ihn selbst untersucht habe.
    Schwester Terentjewa kehrte in den Krankensaal zurück. Der Kranke lag in der gleichen Haltung da, in der sie ihn verlassen hatte, doch er schien jetzt nicht mehr so stark vom Leiden gezeichnet – die Mundwinkel hatten sich angehoben, das Gesicht wirkte ruhig und lächelnd. Der ständige Schmerz hatte den Leutnant viel älter aussehen lassen. Jetzt versetzte sein lächelndes Gesicht Schwester Terentjewa in Erstaunen. Die eingefallenen Wangen hatten sich etwas gefüllt; die vollen, blassen Lippen, die hohe Stirn, auf der sich kein einziges Fältchen zeigte, schienen nicht einem erwachsenen Mann zu gehören, ja nicht einmal einem Jüngling, sondern einem Kind. Schwester Terentjewa erkundigte sich bei dem Kranken nach seinem Befinden, doch er gab keine Antwort. Offenbar war er eingeschlafen.
    Sein Gesichtsausdruck ließ Schwester Terentjewa stutzig werden. Sie nahm Leutnant Schaposchnikows Hand – der Puls ließ sich nicht ertasten, die Hand fühlte sich kaum noch warm an; es war die leblose, kaum spürbare Wärme, die am Vorabend aufgeheizte und längst ausgebrannte Öfen noch bis zum Morgen speichern. Obgleich Schwester Terentjewa ihr Leben lang in der Stadt gelebt hatte, ließ sie sich auf die Knie fallen und wimmerte wie eine Bäuerin, leise, um die Lebenden nicht zu beunruhigen:
    »Ach, du unser Liebling, du unsere Blume, wohin bist du von uns gegangen?«
    30
    Im Lazarett sprach sich die Ankunft von Leutnant Schaposchnikows Mutter herum. Der Lazarettkommissar, Bataillonskommissar Schimanski, empfing die Mutter des Verstorbenen. Schimanski, ein schöner Mann mit einer Aussprache, die seine polnische Herkunft verriet, zog die Stirn kraus, während er Ljudmila Nikolajewna erwartete – er glaubte, dass sie unvermeidlich in Tränen ausbrechen und vielleicht in Ohnmacht fallen würde. Er fuhr sich mit der Zunge über den Schnurrbart, den er sich erst vor kurzem hatte wachsen lassen, bedauerte den verstorbenen Leutnant, bedauerte seine Mutter und ärgerte sich deswegen sowohl über den einen als auch über die andere: Wenn man jede Mama jedes verstorbenen Leutnants empfangen wollte, wo sollte man die Nerven dafür hernehmen?
    Nachdem er Ljudmila Nikolajewna einen Stuhl angeboten hatte, schob ihr Schimanski, bevor er das Gespräch begann, eine Karaffe mit Wasser hin. Sie sagte: »Ich danke Ihnen, ich möchte nichts trinken.«
    Sie hörte seinen Bericht über das Konsilium an, das der Operation vorausgegangen war (der Bataillonskommissar hielt es nicht für notwendig, ihr zu erzählen, dass einer gegen die Operation gestimmt hatte), über die Schwierigkeit der Operation und darüber, dass die Operation gut verlaufen war. Die Chirurgen glaubten, dass diese Operation bei so schweren Verwundungen, wie Leutnant Schaposchnikow sie erhalten hatte, vorgenommen werden musste. Er sagte, dass der Tod Schaposchnikows aufgrund eines Herzstillstands eingetreten sei und dass es, wie der Befund des Pathologen, des Militärarztes dritten Ranges Boldyrew, gezeigt habe, nicht in der Macht der Ärzte gestanden habe, diesen unerwarteten Exitus vorauszusehen und abzuwenden.
    Dann sprach der Bataillonskommissar darüber, dass Hunderte von Kranken das Lazarett durchliefen, dass jedoch das Personal selten einen so gern gehabt habe wie Leutnant Schaposchnikow. Er sei ein pflichtbewusster, kultivierter, schüchterner Patient gewesen, der sich immer gescheut habe, irgendetwas zu erbitten und das Personal zu behelligen. Die Mutter müsse stolz darauf sein, einen Sohn erzogen zu haben, der sein Leben selbstlos und ehrenhaft für die Heimat gegeben habe.
    Ljudmila Nikolajewna bat um Entschuldigung, dass sie dem Kommissar die Zeit stehle, holte aus ihrer Handtasche ein Blatt Papier und begann, ihre Bitten vorzulesen.
    Sie bat darum, ihr die Stelle zu

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