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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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mitleidslos diese lustigen jungen Augen.
    Alle Menschen sind vor der Mutter, die ihren Sohn im Krieg verloren hat, schuldig und werden, solange die Geschichte der Menschheit andauern wird, vergeblich versuchen, Freispruch von ihr zu erlangen.
    32
    Die Soldaten des Arbeitsbataillons luden die Särge vom Lastwagen ab. In ihrer schweigenden Gemächlichkeit bekundete sich die lange Übung in dieser Arbeit. Einer, der auf dem Kasten des Lastwagens stand, schob den Sarg an den Rand; ein anderer nahm ihn auf die Schulter und trug ihn ins Freie; dann kam schweigend ein Dritter und nahm das freie Ende des Sarges auf die Schulter. Ihre Stiefel knirschten auf der gefrorenen Erde, während sie den Sarg zu einem breiten Massengrab trugen. Sie stellten ihn am Grubenrand ab und gingen zum Lastwagen zurück. Als der leere Lastwagen in die Stadt davonfuhr, setzten sich die Soldaten auf die am offenen Grab stehenden Särge und drehten sich Zigaretten aus viel Papier und wenig Tabak.
    »Heute ist nicht so viel zu tun«, sagte einer und fing an, aus einem selbstgebastelten Feuerzeug Feuer zu schlagen – als Zünder war eine Schnur in eine kupferne Patronenhülse eingezogen und der Feuerstein darin eingefasst worden. Nach dem Funkenschlag schwenkte der Soldat die Zünderhülse ein paarmal hin und her, und ein Rauchwölkchen hing in der Luft.
    »Der Feldwebel hat gesagt, mehr als ein Wagen wird es heute nicht«, sagte der Zweite und blies eine große Rauchwolke aus, nachdem er seine Selbstgedrehte angeraucht hatte.
    »Dann machen wir das Grab fertig.«
    »Klar, machen wir’s lieber gleich. Die Liste wird er ja mitbringen und überprüfen«, meinte der Dritte, der nicht rauchte, holte aus der Hosentasche ein Stück Brot heraus, schüttelte es, blies es leicht ab und begann zu essen.
    »Sag du dem Feldwebel, er soll uns ein Brecheisen geben. Bis zu einem Viertel fast ist die Erde gefroren, und morgen müssen wir ein neues Grab machen. Kann man denn so steinharte Erde auf die Schaufel nehmen?«
    Der, der Feuer geschlagen hatte, klatschte schallend in die Hände, schnippte den Stummel aus der hölzernen Zigarettenspitze und klopfte sie leicht auf dem Sargdeckel aus.
    Alle drei verstummten, so als lauschten sie. Es war still.
    »Stimmt es, dass sie den Arbeitsbataillonen das Mittagessen als Trockenverpflegung ausgeben wollen?«, fragte der brotkauende Soldat und senkte die Stimme, um die Toten in den Särgen nicht mit für sie belanglosen Gesprächen zu stören.
    Der zweite Raucher pustete den Stummel aus einer langen, verräucherten Zigarettenspitze aus Rohr, hielt sie ins Licht und schüttelte den Kopf.
    Wieder war es still.
    »Ganz netter Tag heute, bloß ein bisschen Wind.«
    »Hört mal, der Wagen ist gekommen. Also werden wir’s bis zum Mittagessen hinter uns haben.«
    »Nein, das ist nicht unserer, das ist ein Pkw.«
    Aus dem Auto stiegen der ihnen bekannte Feldwebel und nach ihm eine Frau mit einem Tuch auf dem Kopf. Sie gingen auf die gusseiserne Einfriedung zu, wo bis zur letzten Woche Bestattungen vorgenommen, dann aber wegen Platzmangel eingestellt worden waren.
    »Ganze Kompanien werden beerdigt, und niemand gibt ihnen das Geleit«, sagte einer. »Im Frieden sieht das so aus – ein Sarg und hinter ihm vielleicht hundert Leute mit Blumen.«
    »Auch um die da weint man.« Der Soldat klopfte mit seinem dicken ovalen Fingernagel, der von der Arbeit abgeschliffen war wie ein Kiesel vom Meer, zartfühlend auf das Brett. »Nur kriegen wir diese Tränen nicht zu sehen … Schau, der Feldwebel kommt allein zurück.«
    Diesmal zündeten sich alle drei eine Zigarette an. Der Feldwebel kam auf sie zu und sagte gutmütig: »Immer nur rauchen, Jungs, und wer wird die Arbeit für euch erledigen?«
    Schweigend stießen sie drei Rauchwolken aus, dann meinte der, dem das Feuerzeug gehörte: »Mit dem Rauchen wird’s heute nichts, hörst du, da kommt schon der Lastwagen. Ich erkenn ihn am Motor.«
    33
    Ljudmila Nikolajewna ging zu dem Grabhügel und las auf dem Sperrholzschildchen den Namen und militärischen Rang ihres Sohnes. Sie hatte die klare Empfindung, dass ihr Haar, von den Fingern einer kalten Hand berührt, unter dem Kopftuch in Bewegung geriet.
    Rechts und links von ihr, bis dicht an die Einfriedung heran, lagen im weiten Umkreis ebensolche grauen Hügel ohne Gras, ohne Blumen, nur mit einem einzigen, aus der Graberde herausragenden, geraden Holzstiel. Am Ende dieses Stiels saß ein Sperrholzbrettchen mit einem Namen darauf. Es gab

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