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Leben und Schicksal

Leben und Schicksal

Titel: Leben und Schicksal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wassili Grossman
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sterben sollte.
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    Ljudmila Nikolajewna war eine Woche nach einer weiteren, der dritten Operation, die man an ihrem Sohn vorgenommen hatte, nach Saratow gekommen. Die Operation hatte der Militärarzt zweiten Ranges, Maisel, ausgeführt. Die Operation war kompliziert und langwierig gewesen. Über fünf Stunden hatte Tolja in Vollnarkose gelegen, zweimal hatte Hexonal in die Vene eingespritzt werden müssen. Keiner der Lazarettmilitärärzte und Universitätsklinikchirurgen in Saratow hatte je eine derartige Operation durchgeführt. Man kannte sie aus der Fachliteratur. Die Amerikaner hatten sie 1941 in einer kriegsmedizinischen Zeitschrift ausführlich beschrieben.
    Angesichts der besonderen Kompliziertheit dieser Operation hatte Doktor Maisel nach der letzten Röntgenuntersuchung ein langes und offenes Gespräch mit dem Leutnant geführt. Er hatte ihm das Wesen der pathologischen Prozesse erklärt, die sich nach der furchtbaren Verwundung in seinem Organismus vollzogen. Gleichzeitig hatte ihn der Chirurg offen auf das Risiko hingewiesen, das mit der Operation verbunden war. Er hatte gesagt, dass die mit ihm gemeinsam beratenden Ärzte in ihrer Entscheidung nicht einer Meinung waren. Der Klinikchef, Professor Rodionow, war gegen die Operation. Leutnant Schaposchnikow hatte Doktor Maisel zwei oder drei Fragen gestellt und nach kurzer Bedenkzeit gleich im Röntgenkabinett der Operation zugestimmt. Fünf Tage hatte man für die Vorbereitung der Operation gebraucht.
    Die Operation begann um elf Uhr morgens und war erst um vier Uhr beendet. Anwesend war auch der Lazarettleiter, der Militärarzt Dimitruk. Nach dem Urteil der Ärzte, die die Operation beobachtet hatten, war sie glänzend verlaufen. Maisel hatte am Operationstisch bei unerwartet aufgetauchten Komplikationen, die in der Literatur nicht beschrieben worden waren, die richtigen Entscheidungen getroffen. Der Zustand des Kranken während der Operation war zufriedenstellend gewesen, der Puls normal und ohne Ausfälle.
    Gegen zwei Uhr hatte Doktor Maisel, ein schwerer, nicht mehr ganz junger Mann, Übelkeit verspürt und war gezwungen gewesen, die Arbeit für einige Minuten zu unterbrechen. Der Internist Klestow hatte ihm Validol gegeben; danach hatte Maisel bis zum Operationsende keine Arbeitspausen mehr gemacht. Jedoch bald nachdem Leutnant Schaposchnikow wieder in sein Krankenabteil gebracht worden war, hatte Doktor Maisel einen schweren Herzkrampf erlitten. Nur wiederholte Kampferinjektionen und die Anwendung von flüssigem Nitroglyzerin konnten die Gefäßspasmen bis zur Nacht lösen. Der Anfall war offensichtlich von der nervlichen Anstrengung und Überbelastung hervorgerufen worden, die für das kranke Herz zu viel gewesen waren.
    Schwester Terentjewa, die bei Schaposchnikow Wache hielt, kontrollierte, laut Bericht, laufend das Befinden des Leutnants. Klestow kam und prüfte den Puls des Bewusstlosen. Der Zustand Schaposchnikows war zufriedenstellend. Doktor Klestow sagte zu Schwester Terentjewa: »Maisel hat dem Leutnant den Weg ins Leben gebahnt, selbst wäre er jedoch um ein Haar gestorben.«
    Schwester Terentjewa erwiderte: »Ach, wenn Leutnant Tolja nur durchkommt!«
    Schaposchnikow atmete kaum hörbar. Sein Gesicht war reglos. Die dünnen Arme und der Hals wirkten kindlich. Auf der bleichen Haut lag als kaum wahrnehmbarer Schatten die Sonnenbräune, die sich aus der Zeit des Feldeinsatzes und der Steppenmärsche erhalten hatte. Schaposchnikow befand sich in einem halb bewusstlosen Zustand – eine schwere Benommenheit, die auf die Nachwirkungen der Narkose und die seelische und körperliche Erschöpfung zurückzuführen war. Der Kranke murmelte einzelne unverständliche Worte und manchmal ganze Sätze. Schwester Terentjewa schien es, als sagte er schnell hintereinander: »Gut, dass du mich nicht so gesehen hast.« Danach lag er still da, mit herabgezogenen Mundwinkeln, und man hätte glauben können, dass er in seiner halben Ohnmacht weinte.
    Gegen acht Uhr abends schlug der Kranke die Augen auf und bat artikuliert – Schwester Terentjewa wunderte und freute sich – um etwas zu trinken. Die Schwester sagte dem Kranken, er dürfe nichts trinken, und fügte hinzu, dass die Operation hervorragend verlaufen sei und dem Kranken die Genesung bevorstehe. Sie fragte ihn, wie er sich fühle, und er antwortete, dass die Schmerzen in Rücken und Hüfte nicht groß seien. Sie prüfte wieder seinen Puls und wischte ihm mit einem feuchten Handtuch über Stirn und

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