Leben und Schicksal
Augenblick lang wie erstarrt sitzen, dann sprang er auf und stieß einen schrillen Vogelschrei aus. Er hatte sich wohl selbst gesehen, mit seinen toten Augen, wie er, die Mütze schief auf dem Kopf, sinnlos mit seinem Stock in der Luft herumfuchtelte.
Der Blinde hieb mit dem Stock in die Luft, und in diesen kreisenden Hieben äußerte sich sein Hass auf die unbarmherzige sehende Welt. Die Leute stiegen, sich gegenseitig anrempelnd, in den Wagen, er aber blieb weinend und schreiend auf dem Gehsteig zurück. Und die Menschen, die Ljudmila voller Hoffnung und Liebe in die Gemeinschaft von Arbeit, Not, Güte und Leid einbezogen hatte, taten so, als hätten sie sich verabredet, sich nicht wie Menschen zu benehmen; als hätten sie gemeinsam beschlossen, die Ansicht zu widerlegen, dass man das Gute a priori mit Sicherheit in den Herzen derer finden könne, die speckige Kleider trugen und deren Hände von der Arbeit dunkel geworden waren.
Etwas Quälendes, Düsteres streifte Ljudmila Nikolajewna, und diese flüchtige Berührung genügte, um sie mit der Kälte und Dunkelheit der unermesslichen Weiten im bettelarmen Russland zu erfüllen und sie die Hilflosigkeit in der Tundra des Lebens spüren zu lassen.
Ljudmila erkundigte sich bei der Schaffnerin, wo sie aussteigen müsse; die erwiderte gelassen: »Das habe ich Ihnen doch schon mal gesagt. Sind Sie etwa taub?«
Die Fahrgäste, die im Mittelgang standen, gaben keine Antwort auf die Frage, ob sie ausstiegen, und rührten sich nicht vom Fleck.
Ljudmila hatte einst die Vorschulklasse, die sogenannte »Abc«-Klasse des Saratower Mädchengymnasiums besucht. An einem Wintermorgen hatte sie mit den Füßen baumelnd am Tisch gesessen und Tee getrunken. Der Vater, den sie über alles liebte, strich ihr Butter auf eine warme Brioche. Die Lampe spiegelte sich in der dickbauchigen Wölbung des Samowars, und sie hätte sich niemals von der warmen Hand des Vaters, vom warmen Brot, von der Wärme des Samowars trennen mögen.
Es kam ihr nun so vor, als hätte es damals in dieser Stadt keinen Novemberwind, keinen Hunger, keine Selbstmorde, keine im Krankenhaus sterbenden Kinder gegeben, sondern nur Wärme, Wärme, Wärme.
Auf dem hiesigen Friedhof lag ihre ältere Schwester Sonja, die an Krupp gestorben war, begraben. Alexandra Wladimirowna hatte sie zu Ehren Sofja Lwowna Perowskajas Sonja genannt. Auf diesem Friedhof war wohl auch der Großvater begraben.
Ljudmila ging auf ein zweistöckiges Schulgebäude zu; es war das Lazarett, in dem Tolja lag. An der Tür stand kein Posten. Das schien ihr ein gutes Omen zu sein. Sie spürte die Krankenhausluft, die so zäh und klebrig war, dass selbst Menschen, die halb erfroren von der Straße hereinkamen, sich nicht über ihre Wärme freuen konnten, sondern lieber wieder in die Kälte hinausgehen wollten. Sie ging an den Toiletten vorbei, die noch mit den Schildchen »Für Knaben« und »Für Mädchen« versehen waren. Sie ging durch den Korridor und roch Küchendünste. Sie ging noch ein Stück weiter und erspähte durch ein beschlagenes Fenster rechteckige Sargkisten, die im Innenhof abgestellt waren, und wieder dachte sie wie in ihrer Diele zu Hause, als sie den ungeöffneten Brief in den Händen hielt: »O mein Gott, wenn ich doch jetzt nur tot umfiele!« Doch sie ging mit großen Schritten weiter, schritt über den grauen Läufer, kam vorbei an Nachtkästchen mit ihr bekannten Zimmerpflanzen – Asparagus und Philodendron – und gelangte zu einer Tür, auf der neben dem Schildchen »Vierte Klasse« handgeschrieben »Registratur« stand.
Ljudmila gab sich einen Ruck und drückte die Türklinke herunter; Sonnenstrahlen, die durch die Wolken gedrungen waren, fielen durchs Fenster in den Raum, und alles ringsum glänzte auf.
Einige Minuten später sagte der gesprächige Schreiber, der die Karteikarten in einem länglichen, in der Sonne glänzenden Kasten durchsah, zu ihr:
»Aha, also Schaposchnikow, A, B … Anatoli B … aha … Sie haben Glück, dass Sie da so in Ihrem Mantel nicht unseren Kommandanten angetroffen haben, der hätte Sie hochkant wieder hinausgeworfen … aha … also hier haben wir ihn, Schaposchnikow … Ja, ja, das ist er, Leutnant, richtig.«
Ljudmila schaute auf die Finger, die die Karte aus dem langen Sperrholzkasten herausholten. Ihr war, als stünde sie vor Gott und als läge es in Seiner Macht, ihr zu sagen: Er lebt oder er ist tot. Noch zögerte Er, noch hatte Er nicht entschieden, ob ihr Sohn leben oder
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