Leben und Schicksal
einer leeren Kiste und löffelte aus einem fremden Napf mit einem fremden Löffel eingebrannte Suppe.
»Ein gutes Süppchen!«, sagte einer der Köche zu ihr, und da Ljudmila schwieg, fragte er sie herausfordernd: »Oder etwa nicht? Ist sie nicht kräftig genug?«
Wie viel naive Großzügigkeit lag in diesen Worten des Rotarmisten, in diesem Wunsch nach dem Lob eines Menschen, dessen Hunger er gerade gestillt hatte.
Ljudmila half einem Soldaten, eine Feder in seiner defekten Maschinenpistole zu reparieren, was nicht einmal sein mit dem Orden des Roten Sterns ausgezeichneter Feldwebel geschafft hatte. Als sie einem Streit zwischen den Artillerieleutnants zuhörte, griff sie zum Bleistift und half ihnen, eine trigonometrische Formel abzuleiten. Nach diesem Vorfall fragte sie plötzlich ein Leutnant, der sie bis dahin»Graschdanotschka« 17 genannt hatte, nach ihrem Vor- und Vatersnamen.
Nachts ging Ljudmila Nikolajewna an Deck auf und ab. Der Fluss atmete eisige Kälte; aus dem Dunkel blies unbarmherzig ein fast waagrecht wehender Wind. Über ihr leuchteten die Sterne, und sie fand keinen Trost und keine Ruhe in diesem grausamen Himmel aus Feuer und Eis, der sich über ihrem Haupt spannte.
27
Vor der Ankunft des Schiffes in der provisorischen Kriegshauptstadt erhielt der Kapitän den Befehl, nach Saratow weiterzufahren, um Verwundete aus den Saratower Lazaretten an Bord zu nehmen.
Die Passagiere, die in den Kabinen reisten, begannen, sich für die Ausschiffung zu rüsten, trugen Koffer und Pakete heraus und stellten sie an Deck.
Die Umrisse von Fabriken, von mit Blech gedeckten Häuschen und Baracken kamen in Sicht. Es war, als rauschte das Wasser am Heck anders, als habe das Dröhnen der Schiffsturbine einen anderen, alarmierenden Ton bekommen.
Dann kroch langsam das Häusermeer von Samara hervor, grau, rötlich, schwarz, fensterblitzend, in Rauchschwaden aus Fabrik- und Lokomotivschornsteinen gehüllt.
Die Passagiere, die in Kuibyschew ausstiegen, standen an der Reling.
Sie verabschiedeten sich von niemandem, nickten den Zurückbleibenden nicht einmal zum Abschied zu, denn sie hatten unterwegs mit niemandem Bekanntschaft geschlossen. Auf die Alte im sibirischen Nerz und ihre zwei Enkel wartete eine SIS-101-Limousine. Ein gelbgesichtiger Mann im Militärmantel salutierte vor der Alten und begrüßte die Jungen mit Handschlag. Es vergingen ein paar Minuten, und die Passagiere mit ihren Kindern, Koffern und Paketen waren verschwunden, so als hätte es sie nie gegeben. An Bord blieben nur Soldatenmäntel und wattierte Jacken zurück.
Ljudmila dachte, dass sie sich jetzt besser fühlen würde, umgeben von Menschen, die das gleiche Unglück, die gleiche Arbeit, das gleiche Schicksal vereinte. Aber sie hatte sich geirrt.
28
Ljudmila Nikolajewnas erste Begegnung mit Saratow war brutal und grausam. Gleich auf dem Kai prallte sie mit einem Betrunkenen im Soldatenmantel zusammen. Er taumelte, versetzte ihr einen Stoß und beschimpfte sie mit unflätigen Worten.
Sie arbeitete sich den steilen, kopfsteingepflasterten Weg hinauf, der zur Stadt führte, blieb stehen und sah sich schwer atmend um. Das Schiff blinkte weiß zwischen den grauen Lagerhäusern am Kai und stieß, als hätte es begriffen, was in ihr vorging, ein leises, abgehacktes Tuten aus: »Geh schon, geh!« Und sie ging.
Beim Einsteigen in die Straßenbahn drückten die jungen Frauen mit stummer Verbissenheit die Alten und Schwachen zurück. Ein Blinder mit einer Rotarmistenmütze auf dem Kopf, der offensichtlich erst vor kurzem aus dem Lazarett entlassen worden war und sich an seine Blindheit noch nicht gewöhnt hatte, trippelte hastig auf der Stelle und klapperte mit seinem Stock vor sich herum. Er klammerte sich wie ein Kind an eine nicht mehr ganz junge Frau, die gerade vorbeikam. Die Frau versuchte sich von ihm loszureißen und beschleunigte ihren Schritt, das Kopfsteinpflaster dröhnte unter ihren eisenbeschlagenen Stiefelabsätzen. Er aber ließ nicht locker und erklärte ihr hastig:
»Helfen Sie mir beim Einsteigen. Ich komme aus dem Lazarett.«
Die Frau stieß ein Schimpfwort aus und versetzte dem Blinden einen Stoß. Der verlor das Gleichgewicht und setzte sich aufs Pflaster. Ljudmila betrachtete das Gesicht der Frau. Woher kam dieser unmenschliche Ausdruck? Was hatte ihn verursacht? Der Hunger im Jahr 1921, an dem sie in ihrer Kindheit gelitten hatte? Das Massensterben im Jahr 1930? Ein Leben voller Not und Elend?
Der Blinde blieb einen
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